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Leseprobe aus
The Moment we Remember

 

Kapitel 1

 

Ally

 

»Muss das wirklich sein, Jeff? Eigentlich habe ich heute frei.« Für einen Moment kneife ich ergeben die Augen zusammen, drücke das Handy fester ans Ohr und stöhne innerlich auf.

  »Ich weiß, aber Simon ist abgesprungen und ich brauche dich hier als eine meiner erfahrensten und professionellsten Kellnerinnen. Wir waren eh schon unterbesetzt für die Musikverleihung. Und du bist schnell, diskret und organisiert. Kannst dir alles inklusive Extrawünschen merken, während andere zehn Minuten damit zubringen, ihren Stift zu testen. Und außerdem -«

  »Hör auf, mir Honig ums Maul zu schmieren.«

  »Heißt das, du kommst?«, fragt er hoffnungsvoll.

  »Habe ich eine Wahl?«

  »Die hast du immer.«

  Stöhnend ergebe ich mich. »Schon gut. Ich komme.«

  »Danke, Ally. Du hast einen gut bei mir.«

  »Schreib es unter die anderen. Ich könnte mir ein paar Monate Urlaub nehmen, wenn ich alle Extraschichten auf einmal bei dir abrechne.«

  Ich hebe den Stock auf, den mein Schäferhund Rookie mir zum wiederholten Male vor die Füße gelegt hat, und werfe ihn ins Wasser. Augenblicklich jagt er davon und springt ohne zu zögern ins kühle Nass.

  »Darüber müssen wir übrigens dringend sprechen. Es sind zu viele Stunden auf deinem Konto«, mahnt Jeff.

  Ich verdrehe die Augen. »Dann ruf mich nicht immer an, wenn du Personalmangel hast.«

  »Touché.« Er lacht. »Ich überleg mir was, okay?«

  »Zahl sie mir einfach aus, Jeff. Wie beim letzten Mal.«

  Er brummt vor sich hin. »Du solltest dir auch mal ein paar Tage freinehmen. Das steht dir zu.«

  »Dafür gibt es Urlaubstage«, werfe ich ein und seufze. »Ich meine es ernst. Zahl sie mir aus.«

  »Ich überleg es mir, Ally. Wir sehen uns später.«

  »Ja. Bis nachher.«

  Rookie kommt mit einem größeren Stock zurück, legt ihn mir vor die Füße und wedelt mit dem Schwanz.

  »Hast du deinen verloren oder ihn gegen den Besseren eingetauscht?« Ich schiebe das Handy in die Hosentasche, bücke mich, hole aus und werfe ihn erneut in den Puget Sound. Wieder spurtet er los. Eine ganze Weile gehen wir so am schmalen Kiesstrand entlang und ich lasse meinen Blick schweifen. Heute sind wenige Menschen hier. Keine Familien, die mit ihren Kindern spielend am Ufer sitzen, keine Studenten, die ihre freie Zeit nutzen und die Sonnenstrahlen genießen. Kaum Jogger oder Skater, die auf dem Weg oberhalb des schmalen Strandes zu sehen sind. Daher fällt mir die vierköpfige Gruppe junger Männer direkt ins Auge, die ich sonst vermutlich ignoriert hätte. Sie sitzen auf einer roten Decke, nahe am Wasser, lachen und albern zusammen rum.

  Während ich Rookie in den Puget Sound jage, beobachte ich sie. Die Art, wie sie miteinander reden, sich spielerische Hiebe versetzen und offensichtlich ausgelassen den Tag genießen, wirkt vertraut. Sie bilden eine Einheit, kennen sich offenbar in- und auswendig. Je näher ich ihnen komme, umso mehr Details erkenne ich. Zwei sind blond, einer hat pechschwarze Haare und der vierte trägt eine dunkelgraue Beanie. Sie alle sitzen in Shirts und Jeans dort, wirken lässig. Immer wieder sieht einer von ihnen auf, blickt sich um, als würde er etwas suchen. Und jedes Mal scheint die Erleichterung groß zu sein, dies nicht zu finden. Merkwürdig.

  Der Kerl mit der Beanie spielt mit einem Stück Treibholz, verliert aber offenbar das Interesse daran und wirft es unachtsam weg. Mein Blick huscht zu Rookie, der mitbekommen hat, dass etwas in seine Richtung fliegt. Sofort schießt er aus dem Wasser, steuert die Gruppe an und stürzt sich auf das Treibholz. Automatisch werde ich schneller. Nicht, dass es notwendig wäre. Rookie hört auf den kleinsten Pfiff meinerseits, aber ich bin gespannt, wie sie reagieren.

  Als mein Schäferhund die Decke erreicht hat, lässt er den kleinen Klotz fallen und geht erwartungsvoll in Lauerstellung. Das erregt unweigerlich die Aufmerksamkeit der Männer.

  »Hey! Der bringt dir dein Spielzeug zurück«, spottet der Schwarzhaarige und lacht.

  Der Beanie-Typ beugt sich vor und streckt die Hand nach dem Holz aus. Ich entspanne mich ein wenig und lächle. Doch dann bemerke ich das vertraute Beben in Rookies Körper und hole alarmiert Luft: »Rookie! Nein!«

  Aber es ist zu spät. Er schüttelt sich bereits das Wasser aus dem Fell. Tropfen spritzen durch die Luft, landen auf der Decke und den Männern. Reflexartig springen sie auf.

  »Verdammte Scheiße!«, brüllt einer der Blonden.

  »Geht’s noch?«, blafft der Schwarzhaarige.

  Ich pfeife und renne los. Rookie reagiert augenblicklich, kommt zu mir und bleibt neben meinem linken Bein stehen. Ich tätschle seinen Kopf und gehe auf die fluchende Gruppe zu – der Hund dicht an meiner Seite. Er passt sich meinem Tempo an. Wird langsamer, als ich es werde, und bleibt stehen, sobald meine Füße im Kies verharren.

  »O Gott. Das tut mir so leid! Das macht er sonst nie.«

  »Ja, klar«, murmelt der mit der Beanie und wischt sich über die nassen Flecken auf seinem Shirt. Seine braunen Augen funkeln wild mit einer Spur Belustigung darin.

  »Es tut mir wirklich leid«, wiederhole ich und hoffe, dass sie es mit Humor nehmen.

  »Ist ja nichts passiert«, meint der Schwarzhaarige und grinst mich verschmitzt an.   »Immerhin wollte er nur spielen und nicht beißen.«

  »Das macht er nur auf Kommando«, entgegne ich trocken.

  Amüsiert blicken sie auf Rookie, der auf einen Befehl von mir wartet. Dann mustern sie mich von oben bis unten. Ich lache nicht, was den Schwarzhaarigen einen Schritt zurückgehen und scherzhaft die Arme heben lässt. »Das mit dem Kommando hast du ernst gemeint, oder?«

  Ich zucke lächelnd mit den Schultern. Doch anstatt zu antworten gehe auch ich zurück. »Okay. Also, es tut mir leid für die unfreiwillige Dusche und die Störung.« Damit bin ich im Begriff, mich umzudrehen, doch eine Stimme hält mich auf.

  »Löckchen, willst du ernsthaft schon gehen?«

  Ich erstarre mitten in der Bewegung. »Wie bitte?«

  »Ich habe gefragt, ob du schon gehen willst«, wiederholt der Größere der beiden Blonden. »Immerhin hat dein Köter uns einen Schrecken eingejagt und uns nasse Klamotten beschert, da könntest du als Entschädigung ein wenig mit uns abhängen.«

  Ich ziehe die Augenbrauen ein Stück nach oben und straffe die Schultern. »Ernsthaft?«

  Was für ein arroganter Kerl. Löckchen. Meine dunklen Locken, die mir bis zur Taille reichen, sind zwar auffällig, aber noch lange kein Freifahrtschein, mir diesen Spitznamen zu verpassen. Und Köter …? Ich atme tief durch und besinne mich darauf, dass es zwecklos ist, sich über Typen wie diese aufzuregen.

  »Was spricht dagegen? Wir sind vier nette Jungs und du siehst auch nicht übel aus«, setzt er noch einen drauf.

  Wie plump ist das denn? Offenbar übergeht er die Tatsache, dass meine Frage nicht seiner Einladung, sondern viel mehr seinen Beleidigungen gegolten hat.

  »Dir hat keiner Anstand und Respekt beigebracht, oder?«, entgegne ich mit einem Kopfschütteln.

  »Zickenalarm«, hüstelt der Schwarzhaarige. Der kleinere Blonde prustet drauflos und hält sich die Faust vor den Mund.

 »Also, was ist?«, bohrt er nach. »Bis jetzt wollte jedes Mädchen Zeit mit uns verbringen.«

  Fassungslos ziehe ich die Brauen nach oben. »Mein Gott, du bist ganz schön von dir überzeugt.«

  Er grinst herausfordernd.

  »Tja, dann sage ich: Glückwunsch, Jungs. Ihr habt somit gerade die Erste getroffen, die keine Lust auf eure Gesellschaft hat. Also, nichts für ungut.« Damit wende ich mich ab, doch ich komme nicht weit.

  »Hey, Löckchen«, ruft er dreisterweise hinter mir her, »kleiner Tipp für die Zukunft! Wenn du deinen Köter nicht unter Kontrolle hast, solltest du ihn anleinen. Das könnte am Strand sonst zum Problem werden. Es gibt Leute, die wollen ihre Ruhe haben oder die nette Gesellschaft anderer Menschen genießen!«

  Ich muss lachen, ziehe kopfschüttelnd die Sonnenbrille aus und stecke sie mir in die wilde Mähne. Dann drehe ich mich um und mustere jeden Einzelnen von ihnen. Mein Blick streift den Typ mit der Beanie und sofort verändert sich sein Gesichtsausdruck. Die Heiterkeit, die gerade noch in seinen Augen gefunkelt hat, ist einer überraschten Miene gewichen. Irritiert runzelt er die Stirn und neigt den Kopf. Aufmerksam sieht er mich an, als suche er nach einer Antwort, deren Frage ich nicht einmal erahne. Was auch immer es ist, ich bin außerstande, mich von ihm zu lösen. Es ist die Art, wie sich die Emotionen auf seinem Gesicht widerspiegeln. Verwirrtheit. Unglaube. Unsicherheit. Die Art, wie er scheinbar unbewusst einen Schritt auf mich zugeht. Wie er Luft holt, um etwas zu sagen, aber nicht die richtigen Worte findet. Ich habe keine Ahnung, was hier gerade passiert, was er in mir zu sehen denkt. Innerlich winde ich mich unter seinem Blick, kann aber nicht von ihm ablassen.

  Rookie scheint mein wachsendes Unbehagen zu spüren. Seine Nase schiebt sich in meine Handfläche und reißt mich so aus diesem merkwürdigen Moment. Ich blinzle einige Male, räuspere mich und sehe erst zu ihm hinab, dann zu dem großkotzigen Blonden, den das Verhalten seines Kumpels genauso zu irritieren scheint.

  »Kleiner Tipp für die Zukunft: Das hier ist ein Hundestrand und Freilauf durchaus erlaubt. Aber das weißt du sicherlich, denn die Schilder, die alle zwanzig Yards in den Boden gerammt sind, übersieht man schwer. Das Problem sind nicht die Hunde, sondern Kerle mit vorlautem Mundwerk«, gebe ich sarkastisch zurück.

  Der Schwarzhaarige grölt begeistert und boxt dem frech grinsenden Blonden vor mir gegen die Schulter.

Bevor ich mich endgültig abwende, sehe ich ein letztes Mal zu dem Beanieträger. Noch immer mustert er mich aufmerksam, als wäre ich ein Trugbild seiner Wahrnehmung.

 

 

Kapitel 2

 

Blake

 

»Hatte ich schon erwähnt, dass ich mich in einem Anzug unwohl fühle?«, beschwert Liam sich zum gefühlt hundertsten Mal.

  Ich nicke und Cole stöhnt genervt. »Niemand von uns fühlt sich darin wohl. Wir sind Rockstars, die potenziellen Newcomer des Jahres im Nordwesten der USA, keine Börsenmakler.«

  »Jungs, hört endlich auf. Es gibt nun mal einen Dresscode für diese Veranstaltung und vor dem könnt selbst ihr euch nicht drücken.« Rowan massiert sich mit den Zeigefingern die Schläfen.

  Seit einigen Jahren ist sie schon unsere Managerin. Die Tage voller Kopfschmerzen und schlafloser Nächte, die sie unseretwegen bereits durchgemacht hat, sieht man ihr kaum an. Heute aber scheint sie das Gejammer bezüglich der Garderobe an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Was haben wir mit ihr in den letzten Tagen diskutiert, für unsere Bühnenoutfits gekämpft. Es hat alles nichts geholfen. Sie ist hart geblieben und hat sich gegen uns vier behauptet. Das muss man ihr lassen. Obwohl sie gerade einmal so alt ist wie wir, besitzt sie einen stählernen Willen, Durchsetzungsvermögen und das Talent, die Menschen dahin zu lenken, wo sie sie haben möchte. Alles Eigenschaften, die eine Musik-Managerin durchaus haben sollte. Doch uns wird es mitunter zum Verhängnis. Das Ergebnis zeigt sich gerade in dieser Limousine. Rowan sitzt elegant und scheinbar entspannt in ihrem hochgeschlossenen dunkelblauen Abendkleid auf dem Rücksitz. Wir Jungs rutschen neben ihr steif und ungeschickt auf den Polstern herum, fühlen uns unwohl und absolut fehl am Platz.

  »Wenn wir in zerrissenen Jeans und Lederjacken dort auftauchen, wird uns sicherlich niemand rausschmeißen«, wirft Ezra ein und spielt genervt an seiner Krawatte herum.

  »Mag sein. Aber ihr würdet es nicht mal in die Nähe des Gebäudes schaffen.«

  »Weil du uns dann den Hintern aufreißt«, äfft Liam sie nach, was uns allen ein Lachen entlockt.

  Rowan zieht eine Augenbraue hoch, als wolle sie fragen, ob das sein Ernst sei, nickt jedoch schmunzelnd. »Ganz genau, und jetzt Ende der Diskussion. Das hier ist der Radioaward für Washington schlechthin. Er wird die gesamte Westküste entlang bis hin nach Texas, Kansas und Minnesota ausgestrahlt. Selbst im Osten Alaskas spielt er eine große Rolle. Als Newcomer des Jahres nominiert zu sein … das ist der Wahnsinn! Wenn ihr das Ding gewinnt, ist das ein Meilenstein! Euch stehen dann Türen offen, von denen ihr noch nicht einmal zu träumen wagt.«

  Ich wende mich dem Fenster der Limousine zu und betrachte die vorbeirauschende Welt. Eine Welt, die sich in den letzten beiden Jahren schneller dreht. Den Erfolg, den wir gerade erleben, haben wir nie für möglich gehalten. Unsere Songs laufen im Radio rauf und runter, wandern in den Download-Charts weiter nach oben. Immer wieder sprechen uns vorwiegend Mädchen oder junge Frauen an. Kichern und hüpfen, wenn wir mit ihnen ein Selfie machen und unseren Namen auf ihr Shirt schreiben. Diese Nominierung ist etwas Besonderes, denn sie ist keine Entscheidung einer Jury, eines Plattenlabels, die eine ganz bestimmte Stilrichtung suchen. Das hier verdanken wir den Fans. Sie haben uns auf die Liste gewählt.

  Doch so sehr ich mich auch auf diesen Tag heute gefreut habe, so sehr ich mir seiner Bedeutung bewusst bin, so wenig Begeisterung kann ich momentan dafür aufbringen. Denn meine Gedanken kreisen immer noch um die eine Begegnung heute Morgen. Diese Frau, diese Augen. Gott, ich kann diese Augen nicht vergessen. Sie sind so anders gewesen, so einzigartig. Nur für ein paar Minuten hat sie ihre Sonnenbrille abgenommen und uns ihr ganzes Gesicht gezeigt. Nur für einen Moment habe ich das herausfordernde und zugleich belustigte Funkeln gesehen. Aber da war noch etwas. Ihre Iris im linken Auge war halb braun, halb blau. Als hätte man sie in der Mitte mit einem Schwert geteilt und unterschiedlich angemalt. Eine wunderschöne Laune der Natur. Sobald sie mich angesehen hat, ist es dagewesen, dieses merkwürdige Gefühl. Irgendwas hatte mir einen innerlichen Stoß versetzt, einen Beschützerinstinkt in mir ausgelöst. Obwohl sie offensichtlich keinen Beschützer benötigt. Es ist etwas Vertrautes in ihrem Blick gewesen, eine Erinnerung, die zu kurz aufgeflackert ist und die ich nicht greifen konnte.

  »Blake?« Coles Stimme reißt mich ins Hier und Jetzt zurück. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«

  Ich sehe ihn an und er runzelt die Stirn. Cole ist mein bester Freund seit Kindheitstagen. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, wann ich ihm eine Lüge auftische, und trotzdem tue ich es. »Alles gut.«

  »An was hast du gedacht?«

  Wie ich es geahnt habe, er durchschaut mich.

  »An jemanden«, murre ich ausweichend.

  Sein Grinsen wird herausfordernd und veranlasst mich dazu, wieder aus dem Fenster zu schauen.

  »An jemanden?«

  Ich kann beinahe hören, wie die Zahnräder in seinem Kopf einrasten und er eins und eins zusammenzählt. Er hat die Veränderung bemerkt, die diese Begegnung in mir ausgelöst hat. Und auch ich selbst spüre sie. Habe aber absolut keine Ahnung, warum sie so deutlich ist.

  »Du denkst an die Kleine vom Strand, richtig?«

  Mein Blick huscht zu Liam und Ezra, die wieder mit Rowan in einer hitzigen Diskussion stecken. Es geht immer noch um die Anzüge.

  »Wusste ich’s doch. Die war scharf«, stichelt er.

  »Darum geht es nicht«, murmle ich und streiche mir frustriert übers Gesicht. »Ich weiß auch nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl … da ist …«

  »Scheiße, dich hat’s aber erwischt.«

  »Mich hat’s nicht erwischt, Cole.« Ich sehe ihn eindringlich an. »Es braucht schon ein klein wenig mehr als eine Begegnung, damit es mich von den Socken haut.«

  Er grinst breit. »Offensichtlich nicht. Ganz gleich, was sie in dir ausgelöst hat. Es haut dich von den Socken!«

  »Ich muss nur immer wieder an sie denken. Keine Ahnung«, gestehe ich ergeben.

  »Vielleicht wurmt es dich nur, dass sie keinen Schimmer hatte, wer du bist«, zieht er mich spöttisch auf.

  Am liebsten würde ich ihm einen Hieb versetzen, beschränke mich aber auf ein genervtes Kopfschütteln. »Mir ist der Ruhm egal, das weißt du. Ohne ließ es sich besser leben.«

  »Blödsinn. Du brauchst den Kick, wenn dir alle vor der Bühne zujubeln, sie dich feiern und ausflippen, sobald du auch nur den ersten Ton singst. Du liebst es!«

  Ohne es verhindern zu können, muss ich schmunzeln.

  »Ah, da ist er ja wieder. Willkommen zurück, best buddy. Ich dachte schon, ich hätte dich an eine unbekannte, brünette Lockenschönheit verloren.«

  »Du hast nicht das Gefühl, sie irgendwoher zu kennen?«, bohre ich nach.

  Kopfschüttelnd klopft er mir auf die Schulter. »Nein, und jetzt schlag sie dir aus dem Kopf. Eine Frau ohne Namen in Seattle zu finden, ist mehr als unmöglich. Und wage es nicht, jeden Morgen an diesen Strandabschnitt zu gehen und auf sie zu warten.«

  Ich sehe ihn herausfordernd an.

  »Vergiss sie, Blake. Du kannst so viele haben.«

  »… die ich alle nicht will. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie überhaupt will. Es ist nur … sie zu sehen, das war wie ein Déjà-vu, verstehst du? Ich habe absolut keine Ahnung, wer sie ist, und gleichzeitig kommt sie mir so vertraut vor.«

  »Wir sind da«, unterbricht uns Rowan.

  Cole sieht genervt zu ihr, dann mustert er wieder mich. »Ein Déjà-vu ist nichts weiter als eine Erinnerungstäuschung. Und je mehr du über diese Frau nachdenkst, umso tiefer setzt sie sich bei dir fest. Also vergiss sie, okay? Lass uns da jetzt reingehen, diesen Award gewinnen und verdammt noch mal feiern!«

​

Eine Menschentraube steht vor dem Eingang des Gebäudes und beginnt zu kreischen, als Ezra den Wagen verlässt. Ein Schauer jagt mir über den Rücken, das Adrenalin breitet sich in mir aus. Es ist immer noch ein verrücktes, absolut surreales Gefühl. Doch auch unglaublich berauschend, inspirierend und voller Ansporn.

  Der Wagen leert sich und ich bin an der Reihe. Aus den lauter werdenden Rufen höre ich fordernd meinen Namen heraus. Ich rutsche vom Sitz, steige aus und gehe lachend auf die Wartenden zu. Arme schlingen sich um meine Taille, Fotos werden geschossen und Autogramme verteilt. Je weiter ich mich von der Limousine entferne und in die Welt eintauche, die wir uns gerade erschaffen, desto mehr verblasst der Gedanke an diese Frau. An das Déjà-vu.

  Rowan wartet geduldig vor dem Eingang auf uns und lächelt. Doch in ihrem Blick liegt dieser mahnende Ausdruck, der uns so viel wie beeilt euch sagen soll.

  Es dauert eine Weile, bis wir die gläserne Eingangstür zum Gebäude passieren können. Eine Handvoll Mitarbeiter in Anzügen begrüßt uns. Einer von ihnen bedeutet uns, ihn zum Aufzug zu begleiten, dann steigt er ein, hält die Tür für uns offen und wartet, bis wir ihm folgen. Er drückt den Knopf der achtundzwanzigsten Etage, was mir eine immense Vorfreude auf die mögliche Aussicht beschert. Der Aufzug ist verspiegelt, sodass wir einen ungehinderten Blick auf unsere ungewohnten Outfits werfen können. Cole verzieht angewidert sein Gesicht, Ezra beginnt von Neuem, demonstrativ an seiner Krawatte herumzuspielen, und Liam sieht gequält zu mir. Ich habe bis jetzt den geringsten Aufstand gemacht, doch auch ich muss zugeben, dass ich mich in meinen zerrissenen Jeans und der Lederjacke wohler fühle. Sicherer. Das hier bin nicht ich. Das ist nicht die Band Whipe up.

  »Herrgott! Zieh sie endlich aus, Ez. Es nervt nur noch«, zischt Rowan schließlich und gibt nach. Das muss sie nicht zweimal sagen. Hastig greifen wir nach den engen Dingern um unsere Hälse, lockern die Knoten und ziehen die Krawatten aus. Dann öffnen wir die obersten Knöpfe, schlüpfen aus den Sakkos und krempeln die Hemdsärmel hoch. Tattoos, Armbänder und breite Uhren kommen zum Vorschein. Ezra lässt die Krawatte auf den Boden fallen, Liam stopft sie in seine Hosentasche, Cole drückt sie Rowan in die Hand und ich hänge meine über den Handgriff des Aufzugs. Als die Türen sich passenderweise in diesem Moment öffnen, stürmen wir hinaus, ehe unsere Managerin das kleine, aber dringend notwendige Umstyling rückgängig machen kann.

  »Jungs! Ernsthaft?«, ruft sie uns hinterher und sammelt die Krawatten ein.

  »Schon gut, Ma’am. Ich kümmere mich darum und werde sie an der Garderobe für Sie hinterlegen.« Damit greift der Mitarbeiter, der mit uns im Fahrstuhl hinaufgefahren ist, nach den Krawatten und nimmt auch die Sakkos entgegen, die wir ihm nur zu gern hinhalten. Rowan sieht uns missbilligend, ihn vorwurfsvoll an. Doch als er sich ihr erneut zuwendet, lächelt sie kokett.

  »Danke. Sehr nett von Ihnen.«

  »Gern, Ma’am.«

  Ihr rechtes Auge zuckt kaum merklich, dann schließt sie zu uns auf und schnaubt:   »Sehe ich wirklich schon so alt aus, dass ich als Ma’am durchgehe?«

  Lachend lege ich meinen Arm um ihre Schulter. »Du bist genauso alt wie wir.«

  Sie rümpft die Nase. »Das beantwortet nicht meine Frage.«

  »Nein. Du siehst nicht aus wie eine Ma’am, aber …«, sage ich und lasse den Rest des Satzes in der Luft hängen.

  »Aber?«

  Ihr Tonfall sollte mich alarmieren, jetzt besser den Mund zu halten. Doch ich ziehe nur meinen Arm von ihrer Schulter, werde schneller und blicke feixend zurück. »Du benimmst dich wie eine.«

  »Blake!«, keift sie, kann sich aber ein Lachen nicht unterdrücken. Ihr Versuch, mir einen Hieb zu versetzen, geht aufgrund meines kleinen Vorsprungs ins Leere.

  Jetzt ist es Ezra, der ihr einen Arm um die Schultern legt und sie an sich drückt. »Aber wir haben dich trotzdem alle lieb, Roro.«

  Angesichts Rowans sich rot färbenden Wangen sehe ich amüsiert zu Cole, der in sich hineinlacht.

  Der hell erleuchtete Flur mit seinen weißgrauen Wänden und anthrazitfarbenen Böden endet vor einer großen, doppelflügeligen Tür. Weiße, aufgezogene Vorhänge lassen ihn wie einen eleganten Theatereingang wirken. Kellner begrüßen uns, geleiten uns mit einem freundlichen Strahlen in den Saal.

  »Das hat mal Klasse«, raunt mir Cole zu.

  Keine Ahnung, was für eine Location ich im achtundzwanzigsten Stock für eine Award-Verleihung erwartet habe, aber die hier ganz sicher nicht. Sechs große, blätterlose Bäume mit weißen Blüten sind im Raum verteilt. Von der Decke hängen Lichtervorhänge, die ein Meer aus erleuchtetem Regen bilden. Runde und festlich eingedeckte Tische stehen in regelmäßigen Abständen voneinander. Direkt neben dem Eingang befindet sich eine große Bühne, rechts von uns eine Theke mit unzähligen Gläsern und Flaschen. Die anderen beiden Seiten sind vollständig verglast und geben einen großartigen Blick auf die Lichter Seattles ab.

  Lange können wir diesen Anblick nicht bewundern, denn je weiter wir in das Geschehen eintauchen, umso mehr Menschen begrüßen uns. Hände werden geschüttelt, Umarmungen ausgetauscht, Small Talk geführt. Bekannte wie unbekannte Gesichter begegnen uns. Die Gespräche fallen leicht, die Interessen sind dieselben. Und zum ersten Mal wird mir vollends bewusst, dass wir nicht mehr nur die Neuen sind. Keine Anfänger, die irgendwie einen Fuß in diese Tür bekommen wollen. Die auf eine Chance hoffen. Wir sind schon drin. Die Tür steht offen, wir sind hindurchgegangen. Das hier sind keine Mentoren mehr für uns, keine Lehrer, Ratgebende. Mögliche Chancen. Wir sind auf Augenhöhe, ebenbürtig und mittendrin. Haben eigene Hürden genommen und sind weiterhin dabei, uns einen Weg zu ebnen. Doch unsere Namen sind bekannt. Unsere Musik wird gehört. Bands und Solokünstler, zu denen wir aufgeschaut haben, begrüßen uns wie alte Freunde, gratulieren zu unserer Nominierung, beglückwünschen uns zu dem Erfolg, den wir haben. Die Gespräche verändern sich. Es sind keine Fragen mehr, die wir stellen, keine Tipps und Tricks, die wir zur Antwort bekommen. Wir tauschen uns aus, berichten von Erfahrungen, den Festivals und Konzerten. Erzählen dieselben Geschichten und haben die gleichen Pläne.

  Es dauert eine ganze Weile, ehe wir endlich an unserem Tisch ankommen. Sitzkärtchen zeigen uns die richtigen Plätze. Cole und Liam nehmen zu meiner rechten, Ezra und Rowan auf der linken Seite Platz. Mit uns am Tisch sitzt eine weitere Band, die ebenfalls in unserer Kategorie nominiert ist. Außerdem drei Musikerinnen, mit denen Cole und Liam bereits heftig flirten.

  »Hey, Blake.« Ezra stupst mich an und deutet Richtung Bar. »Ist das nicht die Kleine vom Strand?«

  Ruckartig richte ich mich auf und mein Puls beschleunigt sich. Ich folge seinem Blick, entdecke eine Gruppe Kellnerinnen. Beinahe unsichtbar stehen sie dort, warten darauf, dass alle sitzen. Und dann sehe ich sie. Ihre Haare hat sie zurückgebunden und zu einem Dutt gedreht, keine ihrer widerspenstigen Locken blitzt hervor. Ein professionelles Lächeln liegt auf ihren Lippen. Ihre Augen beobachten aufmerksam den gesamten Saal. Sie steht zu weit weg, um die besondere Färbung ihrer Iris zu erkennen, auch das Licht ist zu schwach. Doch dieses merkwürdige Gefühl eines Déjà‑vu breitet sich erneut mit aller Macht in mir aus.

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