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Leseprobe aus
Trusted Love - zurück zu uns

 

Kapitel 1

 

Lou

Seit Viktoria vom Imbiss zurück ist und die Schachteln voller duftendem chinesischem Essen auf den Tisch stellt, bedenkt sie mich mit diesem wissenden Grinsen. Es macht mich wahnsinnig. Auch das unablässige Funkeln in ihren Augen, mit dem sie mir wortlos zuschreit ›Ich weiß etwas, was du nicht weißt‹ kenne ich zu gut. Meine liebreizende, große Schwester hat es in den letzten Jahren perfektioniert. Jedes Mal, wenn sie ein Geheimnis vor mir hat, sieht sie mich so an. Doch heute scheint sie ihren Master darin zu bekommen, noch nie war das Funkeln so deutlich.

  »Kannst du endlich mit diesem furchtbaren Grinsen aufhören und mir einfach sagen, was für großartige Neuigkeiten du hast?«

  »Ich freue mich nur auf ein gemeinsames Mittagessen mit dir. Es ist selten genug, dass wir Zeit dafür haben.«

  »Was nicht an mir liegt«, gebe ich zurück.

  Es sind ihre Termine, die sie regelmäßig von Pausen abhalten. Was vielleicht auch daran liegt, dass ihr dieser kleine, süße Brautladen gehört, den sie mit viel Herz und Liebe aufgebaut hat. Sie geht darin auf, ihre Bräute einzukleiden und zu beraten, während ich lieber in meinem Atelier auf der breiten Empore sitze und mich ganz dem Designen neuer Kollektionen hingebe.

  Ich greife nach einer Frühlingsrolle, tunke sie in den Sojadip und beiße genüsslich hinein. »O Gott. Sind die gut.«

  »Dann lass mir ein paar übrig.«

  »Keine Chance.« Hastig greife ich nach der Verpackung und ziehe sie auf meine Seite des Tisches. »Du kannst den Rest haben, aber die gehören mir. Es sei denn, du verrätst mir, was es mit deiner übertrieben guten Laune auf sich hat.«

  Schulterzuckend zieht sie eine Schachtel mit Teigtaschen zu sich heran. »Lass sie dir schmecken.«

  Ich schmolle kurz, tröste mich dann aber mit einem weiteren Bissen.

  »Bevor ich es vergesse: Du musst übrigens gleich einen Termin für mich übernehmen«, sagt Viktoria ganz beiläufig. Mir bleibt die Frühlingsrolle im Hals stecken und ich huste einige Male, ehe ich wieder Luft bekomme.

  »Warum? Ich mache keine Brautberatungen, das weißt du.« Meine gute Laune, mit der ich mich anscheinend bei ihr angesteckt hatte, stürzt in einer wilden Achterbahnfahrt abwärts.

  »Ja, ich weiß. Aber diese Braut hat nach deinen Fähigkeiten als Designerin gefragt.«

  Ich verziehe das Gesicht, grummele und schiebe das Essen von mir. Mir ist der Appetit vergangen. Meine Arbeit liebe ich über alles. Kleider designen, Ideen aufs Papier und schließlich auf die Schneiderpuppe und in diesen Laden bringen. Aber aufgeregte Bräute mit ihrem gesamten Gefolge zu beraten, ist nicht so ganz mein Ding. Ich bin zu ungeduldig für sie. Spätestens nach dem dritten Kleid habe ich meine Gesichtszüge nicht mehr unter Kontrolle und meine Augenbrauen wandern hin und wieder genervt nach oben. Vielleicht liegt es an unserer unterschiedlichen Auffassung, von passt oder passt nicht. Oder dieser unverständliche Drang, so viele Kleider wie möglich anzuziehen, nur damit man einfach einmal alles gesehen hat. Man hat doch bereits eine Vorstellung von seinem Kleid, malt es sich mitunter schon als Kind aus, wie dieser Tag einmal ablaufen soll. Warum also so ein Theater darum veranstalten? Aber das größte Problem ist wohl die Fülle an Emotionen, die eine solche Beratung unweigerlich mit sich bringt. Sie überfordern mich, vor allem, da der Kampf mit meinen eigenen Gefühlen schon anstrengend genug ist. Weinende Bräute erinnern mich nur daran, solch ein Glück selber nie erfahren zu dürfen.

  Viktoria lacht. »Mein Gott, bei deinem Gesichtsausdruck könnte man meinen, du ziehst eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt vor. Vertrau mir. Diese Braut wird dir gefallen.«

  »Wirklich«, sage ich sarkastisch. »Und wie kommst du darauf?«

  Feixend zuckt sie mit den Schultern und beißt in eine Teigtasche. »Ist nur so ein Gefühl.«

  »Ist nur so ein Gefühl«, äffe ich sie nach und handel mir einen Tritt ans Schienbein ein.

  »Stell dich nicht so an. Mit dieser Kundin wirst du fertig. Davon bin ich felsenfest überzeugt.«

  »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.« Ich verdrehe genervt die Augen und lehne mich zurück. Ein unangenehmes und doch sehr vertrautes Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus. Jedes Mal, wenn ich an der Front im ›Bridedreams‹ stehe und mich nicht hinter meiner Nähmaschine verstecken kann, überkommt es mich. Auch jetzt verursacht es in mir Übelkeit und die Frühlingsrollen, die ich eben noch hungrig und genüsslich verschlungen habe, liegen jetzt wie Steine in meinem Magen. »Muss das wirklich sein, Vik?«

  »Ja.« Ihre knappe Antwort quittiert sie abermals mit einem unterdrückten Grinsen und ich atme geräuschvoll ein und aus.

  »Und wie heißt sie?« Nicht, dass es nötig wäre, in meine Worte einen genervten Unterton zu legen, denn man sieht es mir ohnehin an. Ich spüre förmlich, wie meine Augenbraue den Haaransatz berührt. Doch Viktoria scheint von Schuldgefühlen weit entfernt zu sein. Ihre Belustigung wächst von Minute zu Minute. Was zum Teufel ist hier los?

  »Wer?«, fragt sie unschuldig.

  Ich funkle sie an und warte. Warte, bis sie von ihrer Teigtasche abbeißt, kaut und runterschluckt, doch dann wiederholt sie diese Geste nur und scheint sich prächtig über meine immer schlechter werdende Stimmung zu amüsieren. Als in diesem Moment auch noch die Türglocke einen Laut von sich gibt und vermutlich die Kundin ankündigt, die ich jetzt betreuen soll, ist meine Laune auf ihrem Tiefpunkt angekommen.

  Viktorias Lachen macht das Ganze nicht wirklich besser. Sie deutet mit dem Daumen aus der Küche hinaus. »Dann mal los. Das ist bestimmt deine Braut.«

  Missmutig erhebe ich mich von meinem Stuhl und gifte sie an. »Und was machst du in der Zwischenzeit, während ich deinen Job übernehme? Oben liegen noch ein paar Kleider, deren Applikationen fertiggestellt werden müssen. Vielleicht kümmerst du dich in der Zwischenzeit einfach um meinen Job.«

  »Lass sie nicht zu lange warten. Das ist nicht gut fürs Geschäft.«

  »Ich zeig dir gleich, was nicht gut fürs Geschäft ist. Spätestens in zehn Minuten habe ich sie mit meiner schlechten Laune vergrault.«

  Sie erhebt sich, stellt sich vor mich und bohrt mir ihre beiden Zeigefinger in die Wangen, dann schiebt sie sie nach oben, bis eine schiefe Fratze auf meinem Gesicht erscheint. »Lächeln, Schwesterchen. Immer schön lächeln.«

  Ich blecke die Zähne, grinse und mache damit garantiert Batmans Joker Konkurrenz.

  »Sehr hübsch«, zieht sie mich auf. »Und jetzt schwing deinen Hintern da raus und lass sie nicht länger warten.«

  Da es absolut zwecklos ist, mit Viktoria weiter zu diskutieren, setze ich mich in Bewegung, doch nicht ohne ihr noch einen letzten vernichtenden Blick zuzuwerfen. Kaum habe ich mich von ihr abgewandt, atme ich tief durch und setze mein strahlendstes Lächeln auf. Ein Kinderspiel, denn ich habe es in den letzten Jahren perfektioniert. Es ist eine Fassade, die ich mir erschaffen habe, nachdem ich keine andere Wahl mehr hatte. Eine Maske, die die Welt um mich herum glauben lässt, mir ginge es gut, und durch sie fühle ich mich meistens auch gut.

  Doch kaum habe ich den Verkaufsraum betreten, bleibe ich abrupt stehen. Blaue, vor Freude strahlende Augen sehen mich an. Lange blonde Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden wippen auf und ab, weil die dazugehörige Person ungeduldig mit ihren Füßen federt. Dazu kommt noch dieses so vertraute breite Lächeln, das ich jederzeit und überall wiedererkennen würde. »Jules?«

  »Überraschung!«, trällert meine beste Freundin und breitet die Arme aus, während sie sich in Bewegung setzt und auf mich zukommt.

  »Jules!«, wiederhole ich, immer noch um Fassung ringend. »Oh mein Gott. Du bist hier!«

  Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals, quietscht vor Freude und drückt mich fest an sich. Erst da begreife ich es. Sie ist tatsächlich hier. Sofort erwidere ich die Umarmung und fange an zu schluchzen. Tränen rinnen meine Wangen hinab und in meiner Brust sammelt sich eine Mischung aus unbändiger Freude und schmerzender Sehnsucht.

  »Du bist hier«, flüstere ich ihr ins Ohr und schniefe erneut. »Ich dachte, du kommst erst in vier Wochen.«

  Jules drückt sich ein Stück von mir weg und auch auf ihren Wangen glänzen dünne Streifen von Tränen. »So lange habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich musste dich unbedingt sehen!«

  Lachend ziehe ich sie erneut in eine Umarmung und genieße den Moment, endlich wieder mit ihr vereint zu sein. Sie fehlt mir. Jeden einzelnen Tag. Ein Telefonat mit ihr, ein Bild über Skype, kann nicht ersetzen, was wir einmal hatten, bevor ich ans andere Ende des Landes gezogen bin. Wir haben alles geteilt, jede freie Minute miteinander verbracht und kaum eine Nacht getrennt geschlafen, bis dieser Unfall alles veränderte. Mich veränderte und die Menschen um mich herum. Ich konnte nicht länger dort bleiben und so bin ich gegangen – und nie wieder zurückgekehrt. Unsere Freundschaft hätte an meiner Entscheidung damals zerbrechen können, doch das Gegenteil ist passiert. Die Geschehnisse mit all ihren Folgen haben uns nur noch enger zusammengeschweißt. Niemand sonst kennt die Auswirkungen für mich besser als Jules. Und niemand sonst ist ehrenhafter, als sie es in all der Zeit gewesen ist. Ohne sich auch nur ein einziges Mal zu beschweren, besucht sie mich hier regelmäßig, nimmt die lange Fahrt auf sich und erwartet keinen einzigen Gegenbesuch. Sie weiß, dass ich nie wieder heimkommen werde. Nie über mein altes Leben spreche, erst recht nicht über ihre Familie, die mir einst so viel bedeutet hat. Ohne ihre Treue, ihr Vertrauen und ihre bedingungslose Loyalität hätte ich in den letzten neun Jahren nicht den Weg zurück ins Leben gefunden.

  »Ich habe dir doch gesagt, mit diesem Termin wirst du fertig.« Viktoria ist neben uns aufgetaucht. Sie lächelt übers ganze Gesicht und zwinkert mir zu. »Und jetzt hol deine Sachen und mach dir ein schönes Wochenende mit Jules.«

 

Kurze Zeit später betreten Jules und ich überschwänglich meine kleine Wohnung. Ihre Reisetasche, vollgepackt, als wolle sie eine ganze Woche bei mir bleiben, lässt sie umgehend neben der Tür fallen. »Ich hätte auf Henry hören und nicht so viel Zeug einpacken sollen. Zumindest nicht, wenn er nicht mitkommt und meine Tasche schleppen kann.«

  »Du packst immer zu viel ein.«

  »Ja, weil man nie wissen kann, was der Tag so bringt.«

  Schmunzelnd hänge ich meine Jacke auf und schlüpfe aus den Schuhen. Sie tut es mir gleich und tänzelt zu meiner Couch hinüber. Genüsslich lässt sie sich in die Kissen fallen und seufzt zufrieden, während sie ihre Füße auf den kleinen Hocker legt. Ich habe es aufgegeben, mit ihr über die Menge an Klamotten in ihrem Gepäck zu diskutieren. Schon bei unserer ersten Klassenfahrt in der Grundschule stand sie abends zuvor heulend in meinem Zimmer und flehte mich an, einen Teil ihrer Anziehsachen in meine Tasche zu packen. Patrick und Anne weigerten sich strickt, sie für drei Tage mit zwei vollen Koffern loszuschicken. Von den Klassenfahrten in der siebten und zehnten fange ich gar nicht erst an. Selbst an unseren Wochenenden in den Bergen schleppte sie unfassbar viel Zeug mit sich herum, von dem sie die Hälfte nicht einmal aus dem Rucksack herausholte. Ihre Handtasche ist ein ganz eigenes Universum. Mehr als ein Portemonnaie, ein Schlüssel, mein Handy und vielleicht noch einen Lipgloss habe ich nicht in meiner Tasche. Doch sie zaubert aus ihrer wie Mary Poppins. Kugelschreiber, Notizblock und diverse Schminkutensilien sind noch die belanglosesten Dinge. Ich habe schon Ballerinas, Taschenlampen, Toilettenpapier, und sogar Besteck darin gefunden.

  Ich setze mich im Schneidersitz neben sie auf die Couch und beobachte sie neugierig. Schon seitdem wir das ›Bridedreams‹ verlassen haben, wird sie von einer aufgekratzten Nervosität begleitet, die ich so noch nie an ihr erlebt habe. Sie nestelt an ihrem Pulloversaum herum und zappelt mit ihren Beinen. Je länger ich sie schweigend beobachte, desto aufgeregter scheint sie zu werden, und nach einem kurzen Moment beginnt sie, nervös auf meinem Sofa vor und zurück zu wippen. Ich folge ihrer Bewegung mit wachsender Neugier. Was auch immer sie mir zu sagen hat, sie scheint die richtigen Worte noch nicht gefunden zu haben, denn mehrfach öffnet sie den Mund, holt Luft, nur um ihn danach wieder zu schließen. Etwas brennt ihr auf der Seele und sie muss es loswerden. »Das hältst du nicht lange aus.« Entspannt lehne ich mich zurück.

  »Was denn?«

  »Mir deine Neuigkeiten vorzuenthalten.«

  »Wer sagt denn, dass ich Neuigkeiten habe?«

  Vielsagend sehe ich sie an, während ich mit meiner Hand ihre wippende Bewegung imitiere.

  »Okay. Es gibt da vielleicht etwas. Eine klitzekleine Sache.«

  »Aha«, sage ich und registriere zufrieden, wie ihre Anspannung immer weiter steigt. Ich lasse sie zappeln, genieße den Anblick ihrer wachsenden Frustration zu sehr. Doch noch ehe ich mich dazu entschließen kann, sie nicht weiter zu quälen, hört sie abrupt mit ihrem Herumgezappel auf.

  »Och Lou. Kannst du mich nicht einfach höflich fragen, wie jeder andere auch?«

Ich unterdrücke ein Lachen, setze mich auf und räuspere mich: »Also gut. Jules. Du siehst ganz aufgeregt aus. Gibt es irgendetwas Neues, etwas Spannendes, was du mir vielleicht erzählen willst?«

  Sie verdreht die Augen und greift dann urplötzlich nach meinen Händen. »Du hast ja absolut keine Ahnung, was mir letztes Wochenende passiert ist!«, ruft sie prompt begeistert aus und holt sofort erneut tief Luft. »Henry hat mir einen Antrag gemacht! Einen verdammten Heiratsantrag, Lou! Kannst du das glauben? Superromantisch, nur wir zwei, und natürlich habe ich angenommen. Wie könnte ich auch nicht. Ich meine, er ist der Wahnsinn, der Mann, mit dem ich alt und schrumpelig werden möchte, und ich liebe ihn und, ach, das weißt du ja schon alles. Aber verdammte Scheiße! Ich werde heiraten! Ist das nicht irre? Mit dir als Trauzeugin an meiner Seite!«

  Ihre Worte überrollen mich wie ein Tsunami und ich brauche etwas, um ihren Redeschwall zu sortieren und in verständliche und logische Sätze zu verwandeln. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Lediglich ›Antrag‹, ›liebe ihn‹ und ›verdammte Scheiße‹ sind bei mir hängengeblieben. Vielleicht auch das Wörtchen ›Trauzeugin‹, aber dessen bin ich mir absolut nicht sicher, denn den letzten Satz hat sie viel zu leise ausgesprochen und beinahe verschluckt. Doch ihr strahlendes Gesicht bestätigt meine Vermutung, dass sie tatsächlich heiraten wird, und mit einem Mal überkommt mich pure Euphorie. Mit einem lauten Jubelschrei stürze ich mich auf sie.

  »Oh mein Gott!«, stoße ich aus, schlinge meine Arme um ihren Hals und drücke sie fest an mich. »Jules, das ist … Ich meine … Oh mein Gott! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

  »Wie wäre es mit ›Ja‹?«, flüstert sie an mein Ohr und ich erstarre für einen winzigen Moment. Das Wort Trauzeugin ist also wirklich gefallen. Vorsichtig lockere ich die Umarmung. Ich möchte ihr in die Augen sehen, wenn ich ihr die Antwort darauf gebe, doch sie lässt mich nicht los. Im Gegenteil. Ihre Umarmung wird fester, beinahe verzweifelt, als hätte sie Angst, vor dem, was ich darauf erwidern könnte.

  »Jules«, sage ich langsam und starte einen erneuten Versuch, mich von ihr zu lösen, und dieses Mal gibt sie nach. Tapfer blinzelnd sieht sie mich an, bereit, jede meiner Antworten hinzunehmen, und das löst einen ungeheuren Schmerz in meiner Brust aus. Sie sollte nicht tapfer vor mir sitzen und alles akzeptieren, was ich von ihr verlange oder abschlage. Sie sollte glücklich und sich meiner Antwort sicher sein. Sie sollte im Freudentaumel im Raum herumtanzen und vor Glück weinen. Stattdessen fleht sie mich wortlos an, ihr nicht abzusagen, sie nicht zu enttäuschen. Doch gleichzeitig zeigt sie mir auch: Egal, wie meine Entscheidung ausfällt, es ist okay. Aber das ist es nicht. Es ist nicht okay. Nicht nach allem, was sie für mich getan hat. Egal, ob ich bereit dafür bin, nach Hause zu fahren, oder nicht. Meine beste Freundin wird heiraten und das Einzige, was sie sich wünscht, ist, mich an ihrer Seite zu wissen. Es ist egal, wie es mir dabei geht. Es ist egal, dass sich gerade ein Knoten in meinem Magen bildet bei dem bloßen Gedanken, ihre Familie wiederzusehen, ihren Bruder wiederzusehen. Es spielt jetzt keine Rolle, an den Ort zurückzukehren, an dem mein Leben zu einem einzigen Kampf geworden ist. Es wird auch am Tag ihrer Hochzeit keine Rolle spielen. Ich werde einen Weg finden, stark und tapfer zu sein. Das hier ist meine Chance, ihr zumindest ein bisschen von dem zurückzugeben, was sie für mich getan hat. »Ja«, sage ich aufrichtig. »Ja natürlich werde ich deine Trauzeugin sein!«

  Für einen Moment scheint sie meine Worte nicht verstanden zu haben, denn ihre Stirn legt sich in Falten. Doch kurz darauf weiten sich ihre Augen und die Hoffnung in ihrem Ausdruck wird erst zu Ungläubigkeit, dann zu Erleichterung und Freude. »Wirklich?«

  »Ja. Es gibt nichts, was mich davon abhalten könnte, an diesem Tag bei dir zu sein.«

  Sie drückt mich erneut feste an sich. »Bist du dir da absolut sicher?«

  »Ja, absolut.«

  »Lou. Du hast ja keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet«, schnieft sie und auch mir treibt ihre Reaktion Tränen in die Augen.

  »Ich hoffe, das sind Tränen des Glücks.«

  Sie löst sich von mir, nickt überglücklich und wischt sich undamenhaft mit dem Handrücken über die Nase. »Ja. Das sind sie. Jetzt wird der Tag wirklich perfekt. Es wäre eigenartig geworden, ohne dich zu heiraten.«

  »Ich werde da sein, Jules. Versprochen.« Die Gedanken an meine bevorstehende Rückreise schiebe ich noch in den Hintergrund. Zu sehr überwiegt die Freude und die Erleichterung in ihren Augen gibt mir die Bestätigung, das Richtige getan zu haben.

  »Okay. Aber nur unter einer Bedingung.«

  »Du stellst Bedingungen? Ich komme zu deiner Hochzeit, nehme alles in Kauf, was mich eigentlich meilenweit von diesem Ort fernhält, und du stellst tatsächlich Bedingungen?«

  Sie lächelt amüsiert, lehnt sich auf der Couch zurück und zieht sich ein Kissen vor den Bauch. Unbedacht spielt sie an den kleinen Stoffblumen auf dem Bezug herum. »Du musst mein Kleid nähen.«

  Ihr Brautkleid? Sie bittet mich allen Ernstes darum, ihr Kleid zu entwerfen? Der Stein, der gerade von meinem Herzen fällt, verrät mir, wie angespannt ich angesichts ihrer Bedingung war. Doch ihr diesen Wunsch zu erfüllen, ist nicht nur ein Kinderspiel für mich, sondern auch eine verdammt große Ehre. Ich verkneife mir eine direkte Zusage und beschließe, sie noch ein bisschen betteln zu lassen. Immerhin hat sie mich über den Abgrund hinausgedrängt, in dem sie mich mit einer einzigen Frage dazu gebracht hat, nach Hause zu kommen. »Ich?«

  »Ja«, sagt sie überzeugt. »Mein Schrank ist voll mit deinen Kreationen. Glaubst du etwa, ich lasse da irgendeinen anderen das wichtigste Kleid überhaupt herstellen? Wozu hat man denn eine Designer-Freundin, die sich rein zufällig auf Brautmode spezialisiert hat?«

  Kopfschüttelnd stehe ich auf und verlasse das Wohnzimmer ohne ein einziges Wort.

  »Lou?«, fragt sie verwirrt, und als ich nicht antworte, ruft sie erneut. »Lou! Was soll das?«

  In meinem Schlafzimmer angekommen greife ich nach zwei dicken Ordnern, meinem Skizzenblock und Stiften. Dann gehe ich zurück, lasse alles neben sie auf die Couch fallen und mache es mir wieder gemütlich. Ich kann mir mein Lächeln nur schwer unterdrücken, als ich ihren fragenden Blick auf mir spüre. Doch dann schiebe ich die Ordner zu ihr hinüber und greife nach meinem Skizzenblock. »Hier. Da sind die besten Stoffproben drin, die du je gesehen hast. Im ersten Satin, Seide und Organza, im zweiten Tüll und Spitze.«

  Dann greife ich nach einem Stift und beginne damit, eine schlanke Silhouette auf das Papier vor mir zu zeichnen. Mehr als ein kurzes Jubeln höre ich nicht mehr von ihr, dann hat sie auch schon ihre Nase in die Stoffe gesteckt, während ich ein Kleid skizziere, von dem ich mir sicher bin, ihren Stil zu treffen. Nach all den Jahren, in denen ich bereits so viele Outfits für verschiedenste Anlässe für sie genäht habe, kenne ich ihren Geschmack ziemlich gut. Ich weiß um ihre Extravaganz, ihren gewünschten Sex-Appeal und den nötigen Funken Anstand, damit dieses Kleid auch kirchentauglich wird.

  »Ich bin jedes Mal aufs Neue sprachlos, wie mühelos du so etwas Unglaubliches aufs Papier bringst«, gluckst sie nach fast zwei Stunden, in denen ich gezeichnet und sie über die Eigenschaften der Stoffe aufgeklärt habe.

  »Es ist nur eine Skizze«, grinse ich und hefte die letzte feine Spitzenborte an den Rand. Sie wird der Hauptbestandteil des Oberteils werden.

  Jules verdreht die Augen, nimmt mir die Zeichnung ihres Brautkleides aus der Hand und begutachtet es. »Und du schaffst es, in vier Monaten fertig zu sein?« Ihre Frage klingt beiläufig, als würde sie nur wissen wollen, ob es morgen regnet.

  Überrascht sehe ich sie an. »Vier Monate?«

  Beinahe kleinlaut nickt sie. »Ups. Hatte ich das noch nicht erwähnt?«

  »Nein, das hattest du nicht. Vier Monate sind verdammt eng, Jules. Ich muss die Stoffe und die Spitze erst bestellen und das Nähen ist auch nicht gerade an einem Tag erledigt. Warum habt ihr es denn so eilig?«

  »Warum sollen wir noch länger warten? Wir sind seit über vier Jahren zusammen und ich will ihn endlich einfach nur heiraten. Verstehst du? Außerdem bist du ein Profi. Du kriegst das ganz bestimmt hin«, erklärt sie selbstverständlich. Meine Fassungslosigkeit prallt einfach an ihr ab.

  »Dir ist aber schon klar, dass du das Kleid noch einmal anprobieren musst? Ich kann es nicht erst einen Tag vor deiner Hochzeit mitbringen und hoffen, dass alles passt. Wenn dann noch etwas geändert werden muss, schaffe ich das niemals!«

  »Quatsch. Jedes Kleid von dir hat gepasst wie angegossen. Außerdem kommst du schon deutlich früher runter. Zwei Wochen vorher findet unsere Verlobungsparty mit dreihundert Gästen statt. Ich brauche dich dabei!«

  Wie bitte? Ich soll verdammte zwei Wochen dortbleiben? Auf gar keinen Fall! Das halte ich nicht aus. Nicht bei all den schmerzhaften Erinnerungen, die dort auf mich warten. Nicht, wenn ich jederzeit auf ihre Familie treffen könnte, auf deren Anwesen das Haus meiner Eltern steht, und die ich damals so verletzt und enttäuscht habe. »Kommt ja so was von nicht infrage!«, protestiere ich und schüttle vehement den Kopf.

  »Ach, komm schon.« Jules setzt ihr liebstes Schmollgesicht auf. »Du bist meine beste Freundin und meine Trauzeugin. Natürlich musst du bei der Verlobungsparty dabei sein.«

  »Jules, ich habe Liefertermine, an die ich mich halten muss. Andere Bräute, die auf ihre Kleider warten.« Und außerdem hatte ich nicht vor, länger als nötig in Rechenberg zu bleiben.

  »Die sind aber nicht so wichtig wie ich!« Sie strahlt mich siegessicher an.

  »Sie sichern aber meinen Lebensunterhalt. Ich kann sie nicht einfach versetzen.« So schnell gebe ich nicht auf.

  »Lou, du schaffst das schon. Du musst zur Verlobungsparty kommen.«

  Ich schnaube und überlege fieberhaft nach einem Ausweg, den ich nicht finde. Ich habe ihr bereits das Versprechen gegeben, zu ihrer Hochzeit zu kommen, da wird sie wegen ihrer Verlobungsparty kein Nein mehr akzeptieren. Ohne jeden Zweifel wird sie mich so lange bearbeiten und mir ein schlechtes Gewissen einreden, bis ich nachgebe. Eine ganze Weile sehe ich in ihr triumphierendes Lächeln und seufze schließlich.

  »Gut, dann komme ich zur Verlobungsparty, bringe das Kleid für die erste Anprobe mit und fahre danach wieder zurück.« Klingt für mich nach einem guten Kompromiss und die Party wird riesig werden. Beste Voraussetzungen, ihrer Familie und somit sämtlichen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Sollte also irgendwie machbar sein. Zur Not verkrieche ich mich in irgendeiner Ecke und warte, bis alles überstanden ist. Hauptsache ich war da.

  »Wie bitte? Nix da! Ich brauche dich in den letzten zwei Wochen vor der Hochzeit an meiner Seite!«

  »Wozu das denn? Bis dahin wird doch wohl alles bereits organisiert sein! Es reicht vollkommen, wenn ich erst zur Hochzeit wieder da bin. Wofür brauchst du mich zwei Wochen lang?«

  »Moralische Unterstützung!«

  Ist das etwa ihr einziges Argument? »Moralische Unterstützung? Ernsthaft?«, frage ich lachend. »Mehr fällt dir nicht ein?«

  Sie grinst mich an. »Ich finde das Argument ausreichend genug.«

  »Jules, ich kann hier nicht einfach zwei Wochen wegbleiben.«

  »Stimmt. Du bleibst drei Wochen.«

  »Was?« Fassungslos starre ich sie an und Verzweiflung klingt in meiner Stimme durch. »Jules, warum tust du mir das an?« Ich kann damit leben, für ein oder zwei Tage dortzubleiben, aber nicht volle drei Wochen. Ich habe Rechenberg nicht umsonst vor neun Jahren verlassen und mir geschworen, nie wieder einen Fuß dahin zu setzen.

  »Weil es einfach an der Zeit ist, deinen knackigen Hintern nach Hause zu bewegen.«

  »Warum?«

  »Nimm es einfach so hin und hör auf, dich dagegen zu wehren. Ich habe jetzt lange genug mitangesehen, wie du dich verkriechst. Jetzt ist Schluss damit. Du wirst nach Hause kommen und dich endlich dem stellen, was dich von dort so lange ferngehalten hat.«

  Ich stöhne frustriert auf und suche nach Argumenten, die sie von ihrem eisernen Vorhaben abringen könnten. Doch ich weiß, dass ich sie nicht finden werde. Vielleicht hat das Schicksal ja in ein paar Wochen Erbarmen mit mir und schenkt mir eine unumstößliche Ausrede. Aber wem mache ich hier etwas vor? Das wird nicht passieren und ich werde mich früher oder später auf das Unausweichliche einstellen müssen. Die Zeit, nach Hause zu fahren, kommt früher als gedacht. »Du bist ganz schön nervig!«

  »Ist das also ein Ja?«, fragt Jules begeistert.

  »Nein, das ist noch kein Ja. Ich muss das erst mit Vik regeln. Sie muss den Laden schließlich in der Zeit alleine machen.«

  »Kein Problem«, trällert sie vergnügt und klatscht in die Hände.

  »Was soll das heißen?«

  »Vik und ich haben schon alles organisiert. Sie gibt dir für drei Wochen frei und regelt in dieser Zeit alles alleine. Einiges konnte sie verschieben, den Rest schafft ihr vorher und für eine Woche wird sie das ›Bridedreams‹ komplett schließen.«

  Entgeistert starre ich sie an.

  »Was denn?«, fragt Jules unschuldig.

  Ich werfe die Hände in die Luft. »Warum diskutieren wir dann hier, wenn du eh schon alles geklärt hast?«

  »Das, meine liebe Lou, weiß ich auch nicht.«

  »Mensch Jules! Du bist echt eine unfassbare Landplage. Ohne dich wäre mein Leben tausendmal einfacher.«

  Sie lacht laut und herzlich und auch ich muss trotz meines immer größer werdenden Knotens im Magen grinsen.

  »Aber ganz im Ernst«, sagt sie plötzlich ganz eindringlich. »Es wird wirklich Zeit für dich, nach Hause zu kommen.«

Kapitel 2

Lou 

 

Nach Hause. Ein Ort, an dem in jedem Winkel Erinnerungen stecken, die einem ein Lächeln ins Gesicht zaubern, an dem man willkommen ist und geliebt wird. Ein Ort, an dem die Seele zur Ruhe kommt und man Kraft tanken kann. An den man gerne zurückkommt, auf den man sich freut und der einen erdet. Für mich hat sich diese Bedeutung verändert. Mein Zuhause ist ein Ort geworden, an dem jede Erinnerung schmerzt, an dem mein Herz sich jegliche Gefühle verbietet und mein Lachen sich falsch anfühlt. Er erdet mich nicht mehr, sondern wühlt mich auf und ruft Hoffnungslosigkeit und Trauer hervor. Und genau dahin fahre ich zurück. Freiwillig. Drei Wochen sind eine lange Zeit und ich habe keine Ahnung, was sie mit mir machen werden. Zwar bin ich geübt darin, zu funktionieren und eine Fassade aufrecht zu erhalten. Zu lächeln, ohne dass jemand die Falschheit dahinter erkennt, aber ich weiß auch, wie anstrengend genau das ist und wie ausgelaugt ich jeden Abend ins Bett gehe, weil ich diese Maske bis heute trage. Wie viel Kraft wird es mir erst dort abverlangen? Gedankenverloren taste ich meine Schläfe entlang und streiche über die lange Narbe, die direkt am Haaransatz verläuft. Sie ist beinahe glatt und kaum zu erkennen, aber mit dem Finger spürt man die leichte Erhebung. Diese Narbe ist eine stumme Erinnerung an einst vergangene Schmerzen. An einen Unfall, der mir nicht nur mein früheres Leben, sondern auch meinen Vater und meine Hoffnung genommen hat. Sie ist eine Erinnerung an die Menschen, die ich aufgrund dessen vor so langer Zeit von mir gestoßen habe.

  Erst, als Jules mich entschuldigend ansieht, bemerke ich meine Geste und lasse die Hand fallen. »Ich verlange gerade ganz schön viel von dir, oder?«

  Nickend zucke ich die Schultern, während sie mir mitfühlend und aufmunternd zugleich über den Arm streicht.

  »Es kommt ziemlich unvorbereitet.«

  »Ich weiß. Aber wann wärst du jemals darauf vorbereitet? Es ist jetzt neun Jahre her.«

  »Nicht lange genug, um zu vergessen.«

  »Niemand verlangt, dass du vergisst, Lou.«

  »Es geht nicht nur um den Unfall«, unterbreche ich sie schnell. Der Unfall ist ein Teil von mir geworden und ich habe akzeptiert, mit den Schmerzen in meiner Seele und den Ängsten in meinem Kopf zu leben. Sie werden immer ein Teil von mir sein und mich Tag für Tag begleiten. In jedem einzelnen Moment begegne ich Situationen, die mir Angst machen, die mich zum Weglaufen bewegen und mich immer noch ein Stück weit isoliert leben lassen. Mein Freundeskreis hier ist überschaubar, meine Freizeitaktivitäten beschränken sich hin und wieder auf einen Kinobesuch, aber das ist okay. Ich habe einen Weg gefunden, zu überleben. Irgendwie. Und es funktioniert. Irgendwie. Aber der Gedanke, nach Hause zu kommen, weckt ganz andere Befürchtungen in mir als die, die ich bisher kenne. Es ist nicht die Angst vor zu vielen Menschen, vor engen Räumen oder die Angst, die Kontrolle über mich zu verlieren, so wie sie mich hier tagtäglich begleitet. Es sind andere, beklemmendere Gefühle, die Besitz von mir ergreifen. Schuld, Reue und die Sorge, zurückgewiesen zu werden. Ich hätte es durchaus verdient, bei allem, was ich ihrer Familie angetan habe, und dennoch ist der Gedanke daran unerträglich. »Ich habe Angst, deiner Familie gegenüberzutreten.«

  Sie zieht eine Augenbraue hoch und mustert mich. »Du hast keine Angst vor meinen Eltern oder Phil, stimmt's? Du hast Bammel, Lucas zu begegnen.«

  Mein Herz setzt für ein paar Sekunden aus und eine unglaubliche Leere macht sich in mir breit. Unwillkürlich steigen in mir Tränen hoch und ich muss den Blick senken. Jules' blaue Augen erinnern mich in diesem Moment zu sehr an seine, auch wenn ihre ein paar Nuancen dunkler sind. Für mich war er so viel mehr als nur ihr Bruder. Lucas hat mich glücklich gemacht. Schon allein seine bloße Anwesenheit hat ausgereicht, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Seine Umarmungen, in die er mich immer wieder aus heiterem Himmel gezogen hat, seine Wärme, die auf mich überging, wenn ich nur neben ihm saß, und seine eisblauen Augen, die immer wieder meinen Blick suchten. Ich bin wie gelähmt von diesen übermächtigen Erinnerungen, die aus den hintersten Ecken ans Tageslicht drängen. Er ist mit einem Mal so präsent in meinem Kopf, als wollten die Gedanken an ihn die letzten neun Jahre wiedergutmachen, in denen ich zumindest versucht habe, nicht an ihn zu denken. Sein Geruch, der Klang seiner Stimme, der Druck seiner Hände in meinen. Es ist so deutlich zu spüren. Ich wage es nicht, Jules anzusehen, aus Angst, zu verraten, wie sehr er mir ganz offensichtlich immer noch unter die Haut geht. Er fehlt mir. Und es erschreckt mich selbst. Meine ganze Hoffnung, ihn durch die Distanz und mein Schweigen irgendwann aus meinem Herzen verbannen zu können, löst sich in diesem Moment in Luft auf. Es schmerzt genauso wie vor neun Jahren, als ich den Entschluss gefasst habe, zu gehen und ihn zu verlassen. Er war nicht nur mein bester Freund, er war vor allem meine große Liebe. Langsam nicke ich. »Ich habe ihn damals unglaublich verletzt.«

  »Ja«, sagt sie leise und liebevoll zugleich. »Das hast du. Aber jetzt bekommst du die Chance, es ihm endlich zu erklären.«

  »Wie soll ich ihm all das erklären können, wenn ich nichts hiervon in Worte fassen kann? Du hast mich erlebt, hast die Panikattacken gesehen und gespürt, was dieser Unfall mit mir gemacht hat. Aber wie soll er es verstehen, wenn ich lächelnd und augenscheinlich gesund vor ihm stehe? Wie soll er die unsichtbaren Narben sehen? Wie soll er die letzten neun Jahre nur verstehen?« Es gibt keine Worte, die beschreiben, wie es in mir drin aussieht. Nicht für Menschen, die so etwas noch nie erlebt haben. Jeder hat schon einmal von Depressionen und Panikattacken gehört, was sie aber wirklich für einen bedeuten, begreifen die meisten erst, wenn sie sie selbst erleben. Die Ausmaße sind nicht in Worte zu fassen und ich habe lange und hart gekämpft, um an diesen Punkt zu kommen, an dem ich heute bin. Für andere bin ich ein ganz normaler Mensch, für sie wirke ich fröhlich. Doch die Wahrheit ist eine andere. In meinem Herzen habe ich schon seit so langer Zeit keine Wärme mehr gespürt, keine Freude, die mich ohne Sorgen begleitet. Ich vermisse das unbekümmerte Lachen, vermisse die Unbeschwertheit und die Freiheit, alles jederzeit tun zu können.

  »Du wirst einen Weg finden und glaub mir, er wird dir zuhören und es verstehen.«

  »Zuhören?«, frage ich skeptisch. »Nein. Das wird er nicht. Er wird sich auf dem Absatz umdrehen und gehen, wenn er mich sieht.«

  »Das stimmt nicht.«

  »Und woher willst du das wissen?« Ich sehe sie wieder an. Mein scharfer Tonfall ist einfach an ihr abgeprallt.

  »Weil er jedes Mal nach dir fragt.«

  Ich weiß nicht, mit welcher Antwort ich gerechnet habe, aber nicht mit dieser. Überrascht und ein klein wenig geschockt reiße ich die Augen auf. Warum sollte er immer noch nach mir fragen? Nach all den Jahren Funkstille zwischen uns, nach all den unbeantworteten Briefen und ignorierten Anrufen. War mein Schweigen nicht deutlich genug für ihn? War es nicht laut genug, um ihm klarzumachen, mich zu vergessen?

  »Er wird nicht aufhören, nach dir zu fragen, Lou. Egal, wie lange du ihn ignorierst.«

  »Aber«, stottere ich um Worte ringend. Ich verstehe es nicht. »Warum?«

  »Weil du ihm nach wie vor wichtig bist.«

  »Aber die Briefe … Sie haben irgendwann aufgehört.« Jules' Worte verwirren mich. Ich bin ihm immer noch wichtig? Absolut unmöglich.

  »Welche Briefe?«

  Einen Moment lang sehe ich sie an, unschlüssig ob ich sie ihr zeigen soll. Nicht, weil ich sie vor ihr geheimhalten möchte, sondern weil ich Angst davor habe, den Karton zu öffnen. Die Zeilen in dieser Schachtel und ein einzelnes Schmuckstück an meinem Hals sind alles, was mir von ihm geblieben sind. Sie sind alles, was ich mir erlaubt habe, von ihm zu behalten. Jules' Augenbrauen ziehen sich zusammen und sie sieht mich nach wie vor fragend an, doch ich kämpfe immer noch mit mir. Ihr einfach nur von den Briefen, die ihr Bruder mir geschrieben hat, zu erzählen, ist etwas anderes, als sie ihr zu zeigen. Ihr zu zeigen, wie sehr ich ihn verletzt habe. Doch vielleicht wird sie dann verstehen, wie hoffnungslos eine Aussprache mit Lucas ist.

  »Komm. Sieh selbst.«

  Mit zitternden Beinen stehe ich auf, warte, bis Jules sich ebenfalls erhebt, und gehe in mein Schlafzimmer. Vor meinem Kleiderschrank bleibe ich stehen, öffne die Tür und lasse mich auf den Teppich sinken. Sie tut es mir gleich und beobachtet aufmerksam jede meiner Bewegungen. Auf dem Boden liegen einige Klamotten, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr getragen habe, sie wegzuschmeißen ich aber bis heute nicht übers Herz gebracht habe. Vorsichtig schiebe ich sie zur Seite. Mein Puls rast und ich halte unwillkürlich den Atem an, als der Schuhkarton hinter den Klamotten zum Vorschein kommt. Eine kleine graue Schachtel, gerade groß genug, damit zwei Sneaker hineinpassen, und doch ist sein Inhalt so viel mehr wert. Ich halte einen Moment inne, hole noch einmal tief Luft, bevor ich diesen Teil meiner Erinnerungen hervorziehe. Diese Briefe haben mich in den schlimmsten Monaten meines Lebens erreicht. An Tagen, an denen ich nicht aufstehen konnte, weil meine Seele nicht aufhörte, zu weinen, und meine Angst mich lähmte und davon abhielt, die Wohnung zu verlassen. Sie kamen in den Phasen der Trauer, der Wut und der Verleumdung und haben mich stets daran erinnert, dass es jemanden gibt, der genauso leidet wie ich. Ganz behutsam strecke ich meine Hände aus und greife nach der kleinen Kiste, als ob sie aus zerbrechlichem Glas wäre, und stelle sie auf meinem Schoß ab. Mit Tränen in den Augen sehe ich zu Jules, öffne den Deckel und senke den Blick auf die unzähligen Umschläge darin. »Lucas hat mir jede Woche einen Brief geschrieben. Es fing ein paar Tage nach dem Unfall an. Zuerst hat er sie bei Ella abgegeben, die sie auf meinen Nachttisch legte, später schickte er sie zu Vik, nachdem ich zu ihr gezogen war. Jeden Freitag kam einer. Ausnahmslos.«

  Jules' Hand liegt auf ihrem Mund, während sie fassungslos die Briefe anstarrt. »Davon wusste ich nichts, Lou. Er hat nie etwas gesagt.«

  »Zwei Jahre nach dem Unfall kam der letzte Brief. Danach habe ich nie wieder etwas von ihm bekommen.«

  Vorsichtig streckt sie eine Hand aus und schiebt die ersten Umschläge vorsichtig zur Seite. »Sie sind alle verschlossen.«

  Ich nicke. »Ja. Ich habe nur einen einzigen gelesen.«

  »Welchen?«, fragt sie sofort und zieht ihre Hand wieder weg.

  »Den Letzten.«

  »Warum ausgerechnet den?«

  Unwillkürlich muss ich an den Freitag denken, als zum ersten Mal kein Brief mehr kam. Es war wie immer Viks Mittagspause, in der sie nach Hause kam, um nach mir zu sehen. Sie brachte wie immer die Post mit, doch dieses Mal kam sie nicht in mein Zimmer, um einen Brief auf mein Bett zu legen. Dieses Mal setzte sie sich zu mir, nahm mich in den Arm und strich mir behutsam über den Rücken. Ohne dass sie etwas sagen musste, wusste ich, es war vorbei. Jeden Freitag hatte ich mich vor dem Moment gefürchtet, in dem sie den Umschlag auf mein Bett legte, und doch hatte ich mich auch jedes Mal irgendwie darüber gefreut. Die Briefe waren eine Stütze, ohne dass ich wusste warum, und ohne je einen gelesen zu haben. Sie waren von ihm. Er hatte sie in den Händen gehalten, sie geschrieben und dabei an mich gedacht. Das war mehr, als ich je von ihm hätte verlangen können. Eine ganze Nacht lang bewahrte ich sie unter meinem Kissen auf, bevor ich sie zu den anderen in die Kiste legte und mein Herz ein Stück weiter verschloss. Mehr als diese Briefe würde ich von ihm nicht mehr bekommen. Und dann war plötzlich dieser eine Freitag, an dem keiner mehr kam, und die Leere, die sich bis dahin in meinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, wurde plötzlich noch viel dunkler und kälter. Viktorias Umarmung machte es endgültig und ihre Worte schnitten wie messerscharfe Rasierklingen in mein Herz. ›Es wird kein Brief mehr kommen, Lou.‹ Ich wollte weinen, wollte um die letzte kleine Verbindung zu Lucas trauern, auch wenn ich sie niemals erwidert hatte, doch es kam nicht eine einzige Träne. Das war der Moment, in dem all meine Gefühle erstarben, als meine Mauer um mein Herz endlich zu Ende gebaut war und ich mir schwor, nie wieder einen Menschen dort hineinzulassen. Ich hatte es so gewollt und doch traf mich sein Entschluss, nicht mehr um mich zu kämpfen, schwerer als gedacht. »Vik hat mir gesagt, dass Lucas mir nicht mehr schreiben wird, und ich wollte wissen, warum. Deswegen habe ich ihn geöffnet.«

  »Und? Hast du eine Antwort darauf erhalten?«

  Ich zucke mit den Schultern, ziehe den einen Brief heraus und halte ihn ihr hin. Doch sie legt nur beide Hände auf meine. »Diese Worte gehören nur Lucas und dir.«

  Ich nicke und starre noch einen Moment auf den geöffneten Umschlag, der jetzt ganz oben liegt. Seine Worte sind immer noch glasklar in meinem Kopf und seine Stimme liest sie immer und immer wieder vor.

 

Lou,

ich kann nicht mehr. Ich habe einfach keine Kraft mehr, um unsere Freundschaft, um unsere Gefühle und um dich zu kämpfen. All meine Fragen blieben unbeantwortet, alles, was ich sagen wollte, habe ich gesagt. Diese Zeilen hier werden die Letzten sein, die du von mir erhältst, denn ich muss dich gehen lassen. Ganz offensichtlich habe ich keinen Platz mehr in deinem Leben. Wir haben keinen Platz mehr und meine Liebe reicht dir wohl nicht aus, um dich zurückzuholen. Es fällt mir schwer, dein Schweigen zu akzeptieren, deine Entscheidung zu verstehen, aber eine andere Wahl habe ich nicht mehr. Ich würde dir so gerne mehr geben, mehr beweisen, aber wie soll ich das anstellen, wenn du mich nicht lässt? Ich habe lange genug gebettelt, habe lange genug gewartet. Ich kann nicht mehr, Lou. Du wirst keinen Brief mehr von mir erhalten, aber ich werde die Hoffnung nicht verlieren, dich eines Tages doch noch ein einziges Mal in den Arm nehmen zu können.

Lebe wohl, Louisa.

Ich liebe dich.

 

»Ich habe die Antwort bekommen, mit der ich gerechnet habe«, sage ich schließlich. Der Schmerz dieser Worte trifft mich auch heute noch und erneut steigen mir Tränen in die Augen. Noch ein letztes Mal werfe ich einen Blick auf die Briefe. Dann schließe ich den Karton und schiebe ihn zurück in sein Versteck.

  »Lou?«, fragt Jules vorsichtig, als ich den Stapel Klamotten wieder vor die Kiste schiebe. »Ich muss diese Zeilen nicht lesen, um zu wissen, wie sehr Lucas gelitten hat, und ich glaube, er wartet bis heute auf eine Antwort von dir. Wenn ich ihm von deinem Besuch erzähle, wird es ihm genauso schlecht gehen wie dir jetzt. Du bist nicht die Einzige, die Angst vor einer Begegnung hat. So sehr Lucas sie sich wünscht, so sehr fürchtet er sich auch davor.«

  »Ich weiß.«

  »Darf ich ganz ehrlich zu dir sein?«

  Ich nicke.

  »Lucas hat seinen Weg gefunden und er verdient es, in irgendeiner Art und Weise einen klaren Schlussstrich zu bekommen. Wenn du dein Leben weiterhin ohne ihn leben möchtest, dann erkläre es ihm und gib ihm die Möglichkeit, sich endgültig von dir zu verabschieden. Ich weiß, wie schwer es dir fällt, aber er kann erst glücklich werden, wenn du in seinem Herzen keine Rolle mehr spielst. Es sei denn, du willst darin wieder eine Rolle spielen.«

  »Nein«, sage ich schnell. Zu schnell. Ein amüsiertes Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. »Nein. Wirklich«, versuche ich es noch einmal. »Es ist gut so, wie es jetzt ist, und daran soll sich auch nichts ändern.«

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