Leseprobe aus
West End Love: Riley & Ellis
Kapitel 1
Riley
Wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann die Tatsache, dass das Schicksal jederzeit imstande ist, dir in den Arsch zu treten. Mal mehr, mal weniger. Was dieser Tritt hier bedeutet, kann ich noch nicht sagen, aber ich weiß, dass er Veränderungen mit sich bringt, deren Ausmaß ich mir nicht vorstellen mag.
»Er hat es mir nicht einmal persönlich gesagt!«, rufe ich aufgebracht ins Telefon, weiche den Menschen auf New Yorks Straßen aus und kämpfe mich weiter den Bürgersteig entlang. Den Brief in meiner zur Faust geballten Hand. Ich wedele damit herum, als könne allein die Geste ihn zerstören.
»Süße! Er muss das schriftlich machen«, versucht Paige mich zu beruhigen und gähnt herzlich. Shit. Die Zeitverschiebung. Bei ihr in London ist es mitten in der Nacht und ich habe sie aus dem Schlaf geklingelt. »Immerhin ist es keine Kündigung, sondern lediglich die Info über einen Verkauf des Gebäudes.«
»Super«, stoße ich aus. »An irgendwelche anonymen Immobilientypen, die nichts außer Dollar-Zeichen in den Augen haben. Ist doch klar, dass die Kündigung nur eine Frage der Zeit ist. Und falls diese nicht eintritt, wird die Miete erhöht. Die ist im Moment ein reiner Freundschaftspreis und dabei wird es nicht bleiben. Das Doppelte, wenn nicht gar das Dreifache erwartet mich.«
»Das weißt du nicht. Rede mit Mr. Goldman. Du stehst kurz davor, einen Michelinstern zu bekommen. Dein Restaurant ist eine Goldgrube.«
»Ja, und was bringt mir das? Selbst wenn der neue Eigentümer eine gehobene Küche und die Aussicht auf solch eine Auszeichnung attraktiv findet, kann ich den Stern im Handumdrehen zu meinen Sportmedaillen aus der Schule hängen. Jeder Verkauf am Central Park ist mit jahrelangen Umbaumaßnahmen vonstattengegangen. Niemand wird durch Staubwolken gehen und Bohrlärm ertragen, um im Baileys zu essen.«
»Hey, mach Platz!«, höre ich eine Stimme hinter mir und schaffe es gerade noch, zur Seite zu springen, ehe mich ein Kurierfahrer fast über den Haufen fährt. Schimpftiraden von anderen Fußgängern verfolgen ihn, angesichts seiner tollkühnen Fahrweise auf dem Bürgersteig. Gut möglich, dass auch ich diverse Flüche ausspucke, für die Grandpa mir wochenlang Vorträge gehalten hätte.
»Was war das?« Paige gluckst amüsiert.
Ich schiebe die Lederbag ein Stück die Schulter hoch und werfe dem Typen einen letzten giftigen Blick hinterher. »Ein dämlicher Fahrradkurier.«
»Ein Glück hat er Räder unterm Hintern«, hüstelt sie und wird dann wieder ernster. »Hör zu. Rede mit ihm. Vielleicht sichert er dir zu, dass dein Restaurant mit den jetzigen Konditionen bestehen bleibt. Ansonsten planen wir einen Protest.«
Ich lache freudlos auf. »Mit Schildern, auf denen steht ›Im Baileys schmeckt's, das kommt nicht weg?‹«
»Zum Beispiel«, pflichtet sie ohne zu zögern bei. »Sag mir früh genug Bescheid, damit ich einen vernünftigen Flug buchen kann, ja?«
»Mach’ ich«, sage ich grummelnd.
Wir verabschieden uns voneinander und ich stecke das Handy zurück in die Tasche. Nur noch wenige Schritte trennen mich von dem Gebäude, in dem mein zweites Zuhause liegt. Ein eigenes Restaurant, das ich vor drei Jahren von Grandpa übernommen habe. Ich liebe den Charme dieser Gegend, den Central Park direkt vor der Tür, die Wolkenkratzer wenige Blocks entfernt. Den regen Trubel, gemischt aus Touristen und Einheimischen. Eine Anonymität inmitten bekannter Gewohnheiten. Allein der Gedanke, ich könnte es irgendwann verlieren, bereitet mir körperliche Schmerzen. Zu viele Erinnerungen, die ich nicht loslassen kann und will. Sie sind alles, was ich noch von ihm habe.
Am Bordstein bleibe ich stehen, warte, bis eine kleine Lücke im Verkehr entsteht, und flitze hinüber.
»Guten Morgen, Riley«, grüßt mich Mr. Bernhard, der Antiquitätenhändler aus dem Ladenlokal im Erdgeschoss und winkt, damit ich zu ihm komme.
»Guten Morgen, haben Sie auch einen Brief von John Goldman erhalten?«, frage ich ohne Umschweife.
Er nickt verdrießlich und zieht den zusammengefalteten Umschlag aus seiner hinteren Hosentasche. »Er will verkaufen.«
»Und wie es aussieht, nicht an uns.«
»Ach, Kleines«, murmelt er und tätschelt tröstend meine Schulter. »Meine Tage hier sind gezählt. Mit über siebzig ist es kein Zuckerschlecken mehr, jeden Morgen zeitig aufzustehen und Kisten im Laden herumzutragen. Ein Tag früher oder später nach Vermont zu ziehen und mich da auf der Farm meines Sohnes zur Ruhe zu setzen, ist nicht die schlechteste Aussicht. Aber ich bin dennoch wütend, was er den Bewohnern und vor allem dir damit antut. Und dann an so einen arroganten Anzugträger. Das Restaurant gehört hierher, genauso wie deine köstlichen Kreationen. Ich bin mir sicher, dass dir etwas einfallen wird. Du bist Arthur Baileys Enkelin und hast seine Gene. Der Kerl war zäher als die gesamte US-Marine. Lass mich wissen, wenn ich dir helfen kann. Egal, wie.«
Mr. Bernhard ist ein stolzer Veteran, der jahrelang gedient und sich im Alter den Traum von einem eigenen Antiquitätenladen verwirklicht hat. Ich mag ihn, seine grauen Haare, der akkurat geschnittene Bart und seine aufrechte Körperhaltung, als würde jeden Moment ein Befehlshaber um die Ecke kommen. Doch in seinen Augen blitzt stets ein freches Funkeln.
Schon als Kind war ich oft mit Grandpa im Restaurant, habe stundenlang auf den Vorratskisten gesessen und Granny und ihm beim Kochen zugesehen. Nicht selten kam Mr. Bernhard in seiner Mittagspause nach oben, immer ein Buch mit alten Abenteuermärchen unter seinem Arm, aus dem er mir vorgelesen hat. »Sie haben gesehen, an wen er verkauft?«
Er nickt und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Vor zwei Stunden haben sie das Gebäude besichtigt und so, wie dieser Mistkerl aussieht, wird kein Stein auf dem anderen stehen bleiben, wenn er den Zuschlag bekommt.«
Scheiße. Wut kocht in mir hoch und lässt mein Herz in der Brust gefährlich schnell pochen. Mit zusammengebissenen Zähnen blicke ich an dem mit roten Backsteinen verklinkerten Gebäude hinauf. Keine Bruchbude, nichts, was auf einen Zerfall hindeutet. Im Gegenteil. Es ist eines von den Häusern, die noch den alten Charme New Yorks präsentieren.
»Das ist eine wunderbare Lage, wenn man es aus rein wirtschaftlichen Verhältnissen betrachtet«, grummelt Mr. Bernhard und streicht sich durch den Bart. »All die Sehenswürdigkeiten nur ein paar Häuser weiter. Der wird sich hier seinen Lebensabend allein mit einer verkauften Wohnung verdienen.«
Ich nicke und balle die Hände zu Fäusten. »Haben Sie schon mit Mr. Goldman gesprochen?«
»O ja! Dieser Mistkerl weiß nichts mehr von dem Versprechen, das er einst deinem Großvater gegeben hat. Von wegen, im Alter wird man genügsam. Der Griesgram schwimmt im Geld und will immer noch eine Schippe drauflegen. Auf Kosten all der Menschen, mit denen er früher gemeinsam Geburtstage und Thanksgiving gefeiert hat. Ich gehe jede Wette ein, dass hier überteuerte Luxuswohnungen oder ein auf Hochglanz polierter Bürokomplex entstehen soll.«
Ich atme tief durch und drücke Mr. Bernhards Arm. Wenn er wüsste, dass ich in einer der von ihm so verfluchten Luxusimmobilien lebe, würde er sicherlich auf der Stelle einem Herzinfarkt zum Opfer fallen. »Wir lassen uns etwas einfallen. So schnell gebe ich nicht auf.«
Mr. Bernhard nickt wissend. »Das habe ich mir gedacht, Kleines. Bernice und William sind auch nicht gewillt, hier wegzugehen, können sich aber eine höhere Miete nicht leisten. Wobei ich ohnehin glaube, dass uns dieser Anzugträger vor die Tür setzen wird.«
Mit einem tiefen Atemzug verabschiede ich mich von ihm und öffne die kunstvoll verzierte Holztür des Gebäudes. Heller Marmor und cremefarbene Wände begrüßen mich. Mit wenigen Schritten bin ich bei einem der beiden Fahrstühle, drücke, wie so oft schon in meinem Leben, den Knopf und fahre in die oberste Etage, in der sich mein Restaurant befindet. Ungewohnt, aber außergewöhnlich und ich liebe die Atmosphäre, erst recht in lauen Sommernächten. Oben angekommen umgibt mich der wohlige Geruch nach frischen Kräutern und Grillaromen.
Zielstrebig laufe ich an den edel gedeckten Tischen entlang, bleibe an einem stehen, um ein Messer auf die richtige Position zu schieben, nur ein kleines Stück, und gehe weiter an der Theke vorbei in den breiten Gang, von dem aus es in die Küche, die Umkleiden und mein kleines Büro geht. Ich steuere es an, lasse die Tasche fallen, streife die Lederjacke ab und hänge sie über die Stuhllehne. Während ich die Schürze umbinde, die ich stets an Grandpas selbstgebauten Haken aufhänge, mustere ich die gerahmten Bilder, die die Geschichte des Restaurants erzählen. An einem Foto bleibe ich hängen, gehe langsam darauf zu und fahre mit dem Finger sanft über Grandpas und Grannys Gesichter. Sie beide, hier in dieser Küche, kurz nach dem Umzug des Baileys in das Gebäude. Ich sitze zwischen ihnen auf der Arbeitsplatte, gerade drei Jahre alt, einen Topf zwischen meinen Beinen, einen Löffel in der Hand und die Wangen mit dunkler Schokolade verschmiert.
»Ich werde um das Baileys kämpfen. Das verspreche ich euch«, murmle ich und schiebe den aufkommenden Knoten im Magen beiseite, weil ich absolut keine Ahnung habe, was ich tun kann, wenn meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden.
»Guten Morgen«, begrüße ich die Küchencrew kurze Zeit später und schaffe es nicht, mein übliches Lächeln auf die Lippen zu tackern. »Toni, hat auf dem Markt alles geklappt?«
»Hey, Boss«, höre ich meinen Sous-Chef zwischen Topfgeklapper rufen. »Ja. Nur mit dem Bärlauch war es etwas schwierig. Statt fünf Kisten habe ich nur drei mitgebracht. Die Qualität war in den übrigen nicht die, die wir erwarten.«
»Mist.« Grummelnd steuere ich den Kühlraum an und öffne die schwere Tür. Kälte umgibt mich und lässt Gänsehaut auf meinen Armen entstehen. »Nicht gut, dann müssen wir heute Abend improvisieren, falls die Bärlauchspätzle zu gut ankommen.«
Toni erscheint neben mir und verschränkt die Arme vor seiner durchtrainierten Brust. »Alles okay?«, fragt er und mustert mich eingehend.
Einen Moment halte ich inne, sehe in seine dunklen Augen, dann atme ich geräuschvoll aus, blicke über seine Schulter zur Tür, um mich zu vergewissern, dass niemand sonst in der Nähe ist. »Was hat mich verraten?«
»Dein Tonfall und dieses fiese künstliche Grinsen. Du siehst aus wie das Krümelmonster, dem sämtliche Kekse ausgegangen sind.«
Ich kann nichts gegen das kleine Schmunzeln tun, das an meinen Mundwinkeln zuckt, doch dann werde ich wieder ernster. »Das Gebäude wird verkauft und ich kann nicht sagen, was das für das Baileys bedeutet.«
Seine Miene versteinert sich. »An diesen Typen, der heute Morgen da war?«
»Du hast ihn gesehen? Mr. Bernhard hat etwas erwähnt, ja. War er hier drin?« Ich straffe die Schultern.
»Den hätte ich für zehn Millionen nicht ohne dich ins Restaurant gelassen. Nein. Ich bin mit ihm im Hausflur zusammengestoßen, als ich die Kisten vom Markt in den Aufzug getragen habe. Arroganter Anzugträger mit zwei weiteren Typen, bei denen es mich nicht gewundert hätte, wenn sie einen roten Teppich vor ihm ausgerollt hätten.«
Na super. »Das klingt nicht gut.«
»Glaubst du, er wird kollektive Kündigungen aussprechen? Er wäre dämlich, das Baileys nicht zu wollen. Ich meine, es ist ein offenes Geheimnis, dass die Inspektoren dich für einen Michelinstern auf dem Schirm haben.«
»Noch habe ich ihn nicht«, wiegele ich schnaubend ab.
»Aber, aber. Woher kommen die Zweifel auf einmal?«
Kopfschüttelnd klopfe ich auf seine Schulter. »Ich werde um das Baileys kämpfen. Anzugträger hin oder her. Du weißt, wie sehr ich daran hänge und warum.«
Toni nickt mit einem Mal mitfühlend. »Nicht nur du. Ich habe Arthur ein Versprechen gegeben und ich werde den Teufel tun, es zu brechen.«
Es bleibt keine Zeit mehr, an den Brief zu denken, der mich heute Morgen eiskalt erwischt hat, kein Gedanke an einen Plan, den ich nicht habe, an das, was ich verlieren könnte. Ich bin in meinem Element, umgeben von Stichflammen, die an Töpfen emporschießen, scharfen Messern, die millimetergenau durch Lebensmittel gleiten, und der unbändigen Hektik, die ich so sehr liebe. Die Mittagszeit ebbt gerade ab, doch in der Küche geht es nahtlos mit den Vorbereitungen für den Abend weiter. Ich weiß, dass Lauren, Marie und River im Service einen exzellenten Job leisten, sie den betuchten Gästen jeden Wunsch von den Augen ablesen, die Tische akkurat eingedeckt sind und der Wein in der exakt richtigen Temperatur serviert wird.
Kapitel 2
Ellis
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»Sind die Baupläne angekommen?«, frage ich ohne Umschweife, als ich Dexters Büro betrete. Er blickt von seinem Bildschirm auf und nickt.
»Goldman hat sie gerade geschickt. Der war gestern nicht davon abzubringen, den Vertrag schnellstmöglich zu unterzeichnen. Die Kündigungsschreiben an die Mieteinheiten habe ich heute Morgen übrigens rechtlich abgesegnet. Sie warten nur noch auf dein Okay für den Versand.«
»Gut. Ich will das Gebäude so schnell wie möglich leer bekommen, aber vorher benötige ich detaillierte Daten.« Eilig gehe ich um seinen Schreibtisch herum, stütze mich auf der mahagonifarbenen Arbeitsplatte ab und mustere den Bildschirm. Viel zu kleine Wohnungen und diese verdammten zwei Gewerbeeinheiten. Ein Restaurant und ein Antiquitätenladen. Als gäbe es davon nicht schon genug in New York. »Schick sie Sarah und mir zu. Ich werde mit ihr die Einzelheiten durchgehen und meine Ideen besprechen.«
Mit einem amüsierten Glucksen versetzt er mir einen Hieb. »Natürlich. Pläne durchgehen.«
»Zwei Dinge, Dex. Erstens: Sie ist meine Angestellte. Und zweitens: absolut nicht mein Typ.«
»Das sieht sie ein klein wenig anders.«
»Es nervt«, brumme ich und deute auf den Bildschirm. »Ich muss in diese Wohnungen und das Restaurant rein. Es war schon ein Risiko, ohne eigenes Gutachten zu unterschreiben. Sieh zu, dass wir es bald von Lewis bekommen. Auch wenn ich davon ausgehe, dass dieses Objekt wie die anderen, die ich von Goldman übernommen habe, bis auf kleine Dinge einwandfrei und mit ordentlich Potenzial bestückt ist. Und ich vertraue deiner Einschätzung bei der Erstbesichtigung vor drei Wochen. Das hier wird eine Rendite weit über zwanzig Prozent abwerfen.«
»Ich bin dran. Die Fotos, die wir gestern gemacht haben, sind bereits weitergeleitet.«
»Gut.« Ich richte mich auf. »Alles zu diesem Projekt soll über meinen Schreibtisch laufen. Mach bitte eine entsprechende Notiz.«
Er nickt. »Vereinbarst du den Termin mit Sarah selbst oder soll ich ihr schreiben?«
Statt einer Antwort greife ich zum Telefon und wähle die Kurzwahltaste für meine Assistentin.
»Mr. Butler, was kann ich für Sie tun?«, flötet sie fröhlich in den Hörer.
»Amber, ich bin es.«
»Oh, Mr. Bennington. Sie wünschen?«
»Vereinbaren Sie mit Sarah einen Termin, um die Pläne für das Central Park-Projekt durchzugehen. Am besten sofort.«
»Möchten Sie ins Konferenzzimmer?«
»Nein. In meinem Büro. Könnten Sie außerdem für Dexter und mich einen Tisch im Baileys reservieren?« Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er die Brauen hochzieht.
»Das Restaurant in Ihrem aktuellen Projekt?« Ich höre Ambers lange Fingernägel über die Tastatur fliegen.
»Ja. So schnell wie möglich.«
»Selbstverständlich. Ich schicke Ihnen die Einzelheiten zu.«
»Danke«, murmle ich und lege auf.
»Du willst in einem Restaurant essen gehen, das es vermutlich bald nicht mehr gibt?«, fragt Dex ungläubig.
»Ich möchte es von innen sehen und mir einen eigenen Eindruck verschaffen, du nicht?« Mit schnellen Schritten steuere ich die Tür seines Büros an.
»Die visuelle Prüfung des Mr. Bennington, also.«
Ich hebe die Hand zum Abschied, ohne ihn anzusehen. »Auf Herz und Nieren«, gebe ich knapp zurück und trete hinaus.
Es ist früher Abend, Sarah ist immer noch bei mir. Sie sitzt auf der Couch mir gegenüber, ich im Sessel. Ihre schlanken Beine hat sie überkreuzt und die Bluse einen Knopf zu weit geöffnet. Nicht zum ersten Mal beugt sie sich kokett in meine Richtung und ich muss gestehen, dass mir ihr Geflirte gehörig gegen den Strich geht. Wären ihre Ideen und ihre Arbeit nicht derart förderlich für die Firma, hätte ich sie längst gekündigt.
Ihre rot lackierten Fingernägel fahren über die ausgedruckte Bauzeichnung auf dem Tisch zwischen uns. »Ein großartiges Gebäude und ich würde mich unbedingt für den Erhalt der Backsteinfassade aussprechen.«
Ich nicke, nippe an meinem Kaffee und sehe auf die Uhr. »Sobald der Gutachter einen zufriedenstellenden Bericht schickt und ich die Umbaupläne entworfen habe, kannst du in die Detailplanung der Innenausstattung einsteigen. Aber die Ideen gefallen mir und ich werde deine Hinweise bei der Planung einfließen lassen.«
Sie lächelt und neigt ihren Kopf. »Das freut mich. Sollen wir runter ins Champs gehen und auf dieses Projekt anstoßen?«
Kopfschüttelnd erhebe ich mich und kremple die Ärmel des Hemdes hoch. »Nein. Ich bin bereits verabredet.«
»Schade«, säuselt sie und beißt sich auf die Unterlippe.
Ich gehe zum Schreibtisch, fahre den PC herunter und verschließe die Schreibtischschubladen, ehe ich Sarah mit einer freundlichen Geste auffordere, mir aus dem Büro zu folgen. Unwillkürlich fällt mein Blick auf ihren Hintern, den sie auffällig unauffällig vor mir hin und her bewegt. Ich verdrehe die Augen. Amber blickt auf, als ich mit Sarah das Büro verlasse, und unterdrückt ein Lächeln.
»Mr. Bennington«, sagt sie und hebt eine Mappe in die Höhe. »Ich benötige einen Moment Ihre Aufmerksamkeit.«
Irritiert sehe ich zu ihr, wende mich dann aber an Sarah. »Ich schreibe dir, sobald der Gutachter sich gemeldet hat. Und denk an die Entwürfe für das Boston-Projekt. Ich brauche sie Ende der Woche.«
»Du hast sie morgen auf deinem Schreibtisch. Ich bin in den letzten Zügen.« Ihre Augen huschen verärgert zu Amber, die sie übertrieben freundlich ansieht.
Wir warten, bis Sarah den Aufzug betreten hat und die Türen sich schließen.
»Was gibt es Wichtiges?«, frage ich und greife nach der Mappe, die meine Sekretärin hochgehalten hat.
Sie kichert und schüttelt den Kopf, als ich sie öffne und einen Stapel Speisekarten diverser Lieferrestaurants erblicke. »Ich hatte das Gefühl, dass die Sarah Lamp-Dosis für heute ausgeschöpft war.«
Überrascht und amüsiert zugleich sehe ich sie an und kann ein Lachen nicht mehr unterdrücken. »Sie sind wirklich mit keinem Geld der Welt zu bezahlen.«
»Können Sie mir das schriftlich geben? Ich bin versucht, Sie bei der nächsten Gehaltsverhandlung daran zu erinnern.« Sie tippt sich mit ihrem Bleistift, auf dem ein bunter Einhornkopf-Radiergummi klemmt, an ihr Kinn.
Ich klappe die Mappe zu, lege sie auf ihren Schreibtisch und nicke ergeben. »Haben Sie einen Tisch im Baileys bekommen?«
Zufrieden reißt sie einen kleinen Zettel von einem pinkfarbenen Block ab. »Sie haben Glück. Heute Abend ist ein Tisch frei geworden. In einer Stunde. Ich habe auf den Namen von Mr. Butler reserviert, damit man Sie nicht mit dem Kauf in Verbindung bringt, und ihn bereits informiert, er müsste jeden Moment hier –« Schritte hallen den langen Flur entlang und Amber lächelt. »Hier sein«, vervollständigt sie den Satz und nickt zufrieden.
»Ich habe Hunger, wie sieht es bei dir aus?«, fragt Dexter in diesem Moment, zieht das Sakko hoch, richtet es einmal an seinen Schultern und zwinkert Amber mit einem koketten Lächeln zu. Diese ignoriert es mit einer Lässigkeit, die mich jedes Mal aufs Neue beeindruckt, und sieht zu mir.
»Ich hoffe, Sie berichten morgen in aller Ausführlichkeit, Mr. Bennington.«
»Warum so neugierig? Es ist nur ein Restaurant.« Mit Belustigung registriere ich, wie sie aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her rutscht.
Amber schnappt nach Luft, als hätte ich gerade den Weltfrieden in Gefahr gebracht. »Nur ein …? Es gehört Riley Weaver und sie ist die aufstrebende Köchin in New York. Ihre Kreationen werden gefeiert, das Restaurant ist für Monate ausgebucht. Die Kritiker loben sie und man munkelt, dass sich ein Stern bei ihr anbahnt. Wohlverdient, so liest man es zumindest. Es ist nicht untertrieben, wenn ich sage, dass Sie pures Glück mit dem Tisch hatten.«
Scheiße! Das könnte sämtliche Pläne für das Gebäude in Gefahr bringen. Ein derartiges Restaurant kann nicht stillschweigend aus dem Gebäude raus. Die Presse würde es mitbekommen und ich brauche nicht erst zu überlegen, wer der Buhmann wäre. Ich sehe zu Dexter, der die gleichen Gedanken zu haben scheint, denn seine Miene verhärtet sich.
Ich grummle. »Warten wir ab, ob die Stimmen zutreffen.«
»Überzeugen Sie sich selbst, Mr. Bennington.« Amber wendet sich wieder ihrem PC zu, schiebt den Bleistift zur Seite und tippt mit fliegenden Fingern auf der Tastatur herum.
Schon bei unserem gestrigen Besuch ist mir das großzügige dunkle Metallschild mit dem Schriftzug Baileys am Eingang ins Auge gefallen und zu gern hätte ich einen Blick hineingeworfen. Jetzt bietet sich mir die Gelegenheit und ich bin gespannt, was ein Restaurant im obersten Stockwerk eines Wohngebäudes vorzuweisen hat. Der verspiegelte Aufzug bringt uns langsam hinauf und als die Türen sich öffnen, betreten wir einen hell erleuchteten Flur. Uns gegenüber befindet sich eine Glasfront, deren Elemente zur Seite geschoben wurden. Daneben zwei üppige Gestecke mit weißen Blüten. Nach nur wenigen Schritten strömt uns ein köstlicher Geruch entgegen. Ich kann ihn nicht genau beschreiben, ein leichter Duft nach Lavendel, Kräutern und herrlich Gebratenem. Nicht aufdringlich, eher zart und unterschwellig.
»Herzlich willkommen im Baileys, kann ich Ihnen helfen?« Eine adrett gekleidete Frau mit schwarzer Hose und weißer Bluse begrüßt uns mit einem freundlichen Lächeln.
»Butler. Wir haben einen Tisch reserviert«, meldet sich Dexter zu Wort.
»Wunderbar, Mr. Butler. Wir haben Sie bereits erwartet. Würden Sie mir bitte folgen?«
Dexter neben mir formt ein lautloses »Wow« und so schwer es mir fällt, ich muss ihm zustimmen. Viele solcher Interieurs habe ich bereits besucht, kenne die auf Hochglanz polierten Gläser, glänzenden Besteckreihen und die leise, nicht aufdringliche Musik. Doch dieser Ort ist anders. Er wirkt nicht steril, obwohl es keinen unnötigen Schnickschnack oder übertriebenen Blumenschmuck gibt. Gerade so viel, damit es das Gesamtbild abrundet. Es ist ein eigener Charme, der uns hier umfängt. Dunkler Boden, Holzbalken, die wie Stützen zur Decke ragen und somit kleine Separees zu bilden scheinen, Zeichnungen und Fotografien in Schwarz-Weiß an den Wänden und eine riesige Fensterfront in Richtung des Central Parks. Helle Möbel und dezente Dekoration.
Die Mitarbeiterin zeigt uns einen Tisch in der Nähe einer eleganten Bar, wartet, bis wir uns auf die grauen Lederstühle gesetzt haben und reicht uns die Weinkarte. »Darf ich Ihnen unser Tagesmenü empfehlen? Einen Wildkräutersalat mit Balsamicodressing, Forelle an Bärlauch und Frühlingsgemüse, Risotto mit Garnelen und Büffelricotta, im Anschluss Kartoffelrosen mit Kurzgebratenem und einem Weißweinschaum. Zum Abschluss hausgemachte Petit Fours.«
Ich nicke, nehme die Karte entgegen und warte, bis sie sich taktvoll entfernt hat.
»Das hört sich gut an«, meint Dexter anerkennend und studiert die Speisen. »Genauso wie der Rest. Spargel in Parmesankruste, Bärlauchspätzle mit Sahnehaube und Pinienkerne, Jakobsmuscheln auf Erbsenpüree und Estragonvinaigrette. Perlhuhn mit Morcheln …«
»Ich glaube, wir haben die gleiche Karte«, unterbreche ich ihn und ernte ein Augenverdrehen.
»Ich nehme das Perlhuhn, vorab einen Rucola-Salat mit Fenchel und die Jakobsmuscheln«, fährt er fort. »Und du?«
»Ich folge der Empfehlung des Hauses.«
Nickend legt er die Karte weg, stützt die Ellbogen auf dem Tisch und sieht sich um. Auch ich lasse meinen Blick schweifen, während ich mich zurücklehne und warte, bis wir unsere Bestellung aufgeben können. Es dauert nur eine Minute, ehe eine andere Kellnerin mit einem herzlichen Lächeln auf uns zukommt. Ihre blonden Haare hat sie zu einem Dutt im Nacken gebunden und auf ihrer Uniform ist der Name River eingestickt. Sie nimmt unsere Bestellungen entgegen und empfiehlt passende Weine, die wir mit einem dankenden Nicken absegnen.
»Volle Tische«, bemerkt Dexter.
Ich beobachte ein älteres Pärchen auf der anderen Seite des großen Raumes und muss unwillkürlich lächeln, als er ihr eine Gabel mit einer Kostprobe über den Tisch hält, die sie begeistert genießt. Ihre grauen Haare sind zu einem frechen Bob frisiert, ihre blaue Bluse mit weißen Punkten steht ihr und bringt ihre rosigen Wangen zum Leuchten.
»Ja«, gebe ich zurück und sehe mich weiter um. »Könnte ein Problem werden, wenn dieses Restaurant verspricht, was Amber angedeutet hat.«
»Der Laden läuft, da wird es mit Umbaumaßnahmen unangenehm. Aber das ist nichts, was wir nicht schon unzählige Male bewerkstelligt haben.«
Nickend sehe ich ihn wieder an, meinen besten Freund und langjährigen Geschäftspartner. Wir haben uns im Studium in Stanford kennengelernt und als ich mich mit Projektentwicklung und ‑management im Bauwesen selbstständig gemacht habe, war es ohne große Gespräche klar, dass Dexter einsteigt. »Stand jetzt wirft es sämtliche Pläne über den Haufen.«
»Hat Sarah schon eine Penthousewohnung geplant?«
»In die ich sofort einziehen würde«, sage ich und stöhne innerlich auf. Ein Restaurant. Ich hasse Immobilien mit derartigen Gewerbeeinheiten. Zu oft habe ich die Wechsel mitbekommen, weil sie sich in der gehobenen Klasse nicht halten konnten. Sie bringen nichts außer Arbeit. Reine Wohn- oder Bürogebäude lassen sich besser verkaufen, werfen höhere Renditen ab und versprechen größere Möglichkeiten.
Der Abend vergeht und mit jedem Gang, der uns serviert wird, schwanke ich stärker zwischen Frustration, da ich anderes erhofft hatte und an den Plänen festhalten wollte, und Begeisterung. Die Gerichte ähneln kleinen Kunstwerken und einmal mehr begegne ich Dexters Blick, der meine Gedanken widerspiegelt. Jeder Bissen gleicht einer Geschmacksexplosion und macht deutlich, dass Ambers Worte keine Übertreibung waren. Das hier ist gehobene Küche par excellence.
»Ich kann verstehen, dass das Baileys für Hochzeiten und exklusive Feiern gebucht wird.«
Überrascht sehe ich ihn an, was ihn kurz auflachen lässt. »Du hast die Mail von Amber nicht gelesen?«
Kopfschüttelnd nehme ich den letzten Bissen des Petit Fours und bin beinahe enttäuscht, nichts mehr auf dem Teller zu haben. »Wann hat sie die geschickt?«
»Kurz bevor wir gefahren sind. Sie hat scheinbar über das Baileys eine kleine Recherche betrieben und sämtliche Fakten zusammengefasst. Du solltest sie öfter für solche Arbeiten einspannen. Sie ist gut.«
Gerade als ich erwähnen will, dass ich ihre Fähigkeit diesbezüglich schon lange für mich nutze, wird mein Blick abgelenkt. Eine Frau tritt aus dem breiten Gang hervor, der offensichtlich zur Küche führt. Es würde mir vermutlich nicht auffallen, wenn ihr Aussehen nicht derart markant in diesem Ambiente wäre. Anders als die Kellnerinnen und Gäste, die allesamt elegant gekleidet sind, trägt sie ausschließlich Schwarz. Ein enges dunkles Top und Jeans, die an den Knien aufgerissen ist. Sie wischt sich ihre Finger an einer Schürze ab, die um ihre Hüften gebunden ist. Ihre Boots sind nur zur Hälfte geschnürt, ihre dunklen Haare sind unordentlich und dennoch auf eine unfassbar anziehende Art zurückgesteckt. Als sie ihre Kochmütze auszieht und in ihre hintere Hosentasche steckt, fallen ein paar lange Strähnen heraus und umrahmen ihr ebenmäßiges Gesicht. Mit einem breiten Strahlen geht sie auf das ältere Pärchen zu, das ich den ganzen Abend schon beobachte. Sie begrüßt die beiden mit einer vertrauten Umarmung und lacht über etwas, das der Mann ihr verschwörerisch zuflüstert.
»Na da ist sie ja, die Starköchin Riley Weaver«, höre ich Dexter sagen.
Ohne sie aus den Augen zu lassen, brumme ich. »Das ist Riley Weaver?« Unmöglich. Sie wirkt zu jung und zu frech, um ein Restaurant dieser Größenordnung und Anforderung zu führen.
Ich will mich gerade von ihr abwenden, da sieht sie sich um und mir stockt der Atem, als ihre dunklen Augen den meinen begegnen. Es ist nur ein Moment, in dem auch sie innehält. Ihr Lächeln verblasst, ehe es zurückkehrt, dem Vorherigen so ähnlich und doch auf eine unbeschreibliche Art und Weise anders. Intensiver, persönlicher, geheimnisvoller. Fuck!
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