Leseprobe aus
Trusted Love - nur mit dir
Kapitel 1
Viktoria​
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»Bist du bereit?« Phil grinst herausfordernd, als er sich in den dunklen Ledersattel des Rappens hievt.
»Ich warte nur auf dich«, entgegne ich amüsiert und tätschle Avalons Hals. Mein liebstes Pferd in Annes Stall. Seit einigen Jahren reite ich diesen wunderschönen Wallach mit seinem hellbraunen Fell, einzig das linke Vorderbein ist gänzlich weiß, als wäre er damit in einem Eimer Farbe versunken. Jedes Mal, wenn ich meiner Heimat einen Besuch abstatte, führt mich mein Weg in Annes Stall und zu Avalons Box. Phils Mutter hat sich mit diesem Gestüt einst einen Lebenstraum verwirklicht. Und mir den wahren Mädchentraum damit beschert. Ich durfte hier aufwachsen, habe mit Phil jede freie Minute hier verbracht, wenn wir nicht gerade an einer der Felswände klettern waren. Wir haben im Stroh geschlafen, die Ponys gestriegelt, sind ausgeritten und haben in der großen Reithalle Springunterricht genommen. Boxen ausgemistet, nachts um halb drei Wache bei fohlenden Stuten gehalten und dem Tierarzt geholfen, so gut es ging. Möhren aus der Futterkammer geklaut, Sattel geputzt und mit den Schubkarren mit Anlauf auf den Misthaufen gerannt.
Zu Hause, in Hamburg, vermisse ich oft diese Freiheit. Diesen Geruch der Pferde, das leise Knarzen des Sattels unter mir. Die Bewegungen beim Reiten. Die Arbeit im Stall. Es gibt viele Möglichkeiten, auch dort reiten zu gehen, aber mir fehlt schlicht die Zeit. Das Bridedreams, mein eigener Brautmodenladen, verlangt mir allerhand ab. Ich liebe meine Arbeit, liebe das Gespräch mit den Bräuten und das Designen und Nähen der Kleider. Und doch wächst in mir seit geraumer Zeit der Wunsch nach mehr. Nach einer Veränderung. Es ist nicht mehr dieselbe Leidenschaft wie früher, die mich jeden Tag zur Arbeit treibt.
»Da siehst du mal, wie es mir immer geht. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit meines Lebens ich damit verbracht habe, auf dich zu warten«, sagt Phil und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
Ich grinse, beobachte meinen besten Freund, wie er die Zügel aufnimmt und sich noch einmal in den Steigbügeln kurz erhebt, um die richtige Sitzposition zu finden.
»Ja, und ich denke, so langsam sieht man es dir auch an. Ist das da ein graues Haar?« Ich recke meinen Zeigefinger in seine Richtung und deute an seine Schläfe.
Für einen winzigen Moment weiten sich seine Augen, dann fängt er an zu lachen und drückt meine Hand weg. »Ich habe keine grauen Haare.«
»Die werden noch kommen«, trällere ich triumphierend.
»Und wenn es so weit ist, jammere ich dir die Ohren voll.«
»Da freue ich mich schon drauf. Ich werde dann nicht mehr aufhören können, zu grinsen.«
Phil mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Ich habe mit nichts anderem gerechnet, Viktoria Stern.«
»Also, was ist – können wir endlich los?«
Belustigt schüttelt er den Kopf, schnalzt mit der Zunge und reitet los. Auch ich treibe Avalon an. Die Bewegungen des Pferdes gehen sofort in meinen Körper über und eine unglaubliche Ruhe senkt sich über mich. Vertrautheit und Erinnerung.
»Ich bin froh, dass wir es doch noch geschafft haben.«
»Zusammen auszureiten?«, fragt er. »Ich auch.«
Gemeinsame Momente wie diese sind viel zu selten. Phil und ich waren in unserer Jugend unzertrennlich. Und auch jetzt wären wir es noch, würden unsere Leben nicht an unterschiedlichen Orten dieser Welt stattfinden. Er in Edinburgh, ich in Hamburg. Er CEO des Familienunternehmens Ryan Whisky Ltd. und ich Besitzerin eines Brautmodenladens. Freizeit ist ohnehin schon selten für uns beide – sie auch noch gemeinsam zu verbringen, macht sie daher um so vieles kostbarer. Wir telefonieren, viel und lange, doch nichts bringt mir mehr Kraft als eine Umarmung meines besten Freundes, und ein Lächeln in seinem so vertrauten Gesicht zu sehen.
Diesen gemeinsamen Kurzurlaub hier zu Hause haben wir einzig meiner Schwester, Lou, und seinem Bruder, Lucas, zu verdanken, die gestern auf diesem wunderschönen Anwesen der Familie Ryan ihre Hochzeit gefeiert haben. Doch morgen schon gehen wir wieder getrennte Wege und es sieht nicht danach aus, als würden wir uns in den nächsten paar Wochen wiedersehen.
Mit einem Lächeln erwidert er meinen Blick, während wir unter den riesigen Platanen entlang des Gestüts reiten, die Koppeln mit ihren weißen Zäunen hinter uns lassen und den Wald erreichen, auf dessen breiten Wegen wir schon oft unterwegs waren. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages blitzen durch das dichte Blätterdach, ehe sie hinter dem ersten Berggipfel verschwinden.
»Kannst du dich noch an unseren letzten gemeinsamen Sommer hier erinnern?«, fragt Phil.
»Das ist lange her«, gebe ich zurück.
Sein Lächeln wird blasser und er senkt den Blick, taxiert den Kopf des Pferdes, der bei jedem Schritt auf und ab wippt. Ich beobachte Phil neugierig. Die Stimmung verändert sich, die gute Laune von vorhin ist beinahe vollständig verschwunden. So in sich gekehrt habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Das letzte Mal, als er mir sagen wollte, dass er sich von Jenny, einer blonden Schönheit aus Edinburgh, getrennt hat. Er selbst hatte nicht wirklich etwas Festes mit ihr gesehen und das auch von Anfang an deutlich gemacht. Sie jedoch hatte sich schneller in ihn verliebt, als er Luft holen konnte. Tja, es endete damit, dass Phil sich ein paar neue Einrichtungsgegenstände kaufen musste, sein Haustürschloss austauschen ließ und sich eine neue Handynummer zulegte. Ich habe diese Jenny nie kennengelernt. Dafür ging ihre turbulente Beziehung nicht lange genug. Vier Wochen. Höchstens.
»Damals hatten wir beide Angst, für unsere Studien von hier wegzugehen, obwohl es unser großer Traum gewesen war«, unterbricht er meine Gedanken.
»Es lief halt nicht alles nach Plan.«
Phil hatte seine Zusage vom Londoner College bereits erhalten und wir warteten sehnsüchtig auf meinen Brief vom London College of Fashion. Doch als er dann schließlich kam, zerplatzte unser Traum von einer gemeinsamen Studentenbude. Ein verdammter Punkt hat mir fürs Stipendium gefehlt. Nur ein blöder Punkt. Wir hatten schon alles geplant. Wie unsere Wohnung aussehen würde, welche Clubs wir besuchen, welche Pubs zu unserem Stammlokal werden könnten. Doch all das machte dieser eine Punkt zunichte. Parallel kam die Zusage aus Hamburg und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich wollte nicht ohne Phil studieren gehen, wollte nicht so weit entfernt von ihm wohnen. Aber welche Wahl hatten wir? Wir wollten beide das Studium, wollten beide unseren Berufswunsch verwirklichen. Und so ging ich nach Hamburg, während er in den Flieger stieg und sein Leben in London begann. Es waren nicht nur zwei verschiedene Länder, die uns trennten. Es war ein gottverdammtes Meer, das zwischen uns lag und spontane Treffen mit einem Mal teuer und beinahe unmöglich machten.
»Nein. Ganz und gar nicht. Gott. Und ich war so sauer, weil Gabriel auch nach Hamburg ging.«
»Gabriel?«, platzt es aus mir heraus.
»Ja, du weißt schon, dieser arrogante Affe, der auf deinem neunzehnten Geburtstag so unglaublich dick aufgetragen hat.«
Ich kann nicht anders, als prustend loszulachen. »Du meinst den riesigen Strauß Rosen und die Einladung zum Date?«
Ein brummender Laut dringt aus seiner Kehle, während er versucht, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Na endlich findet er sein Lachen wieder.
»Sag ich doch.«
»Und dass dich das tierisch genervt hat, weil nicht du auf diese Idee gekommen bist?«
»Ich habe dir jeden Tag eine Blume geschenkt.«
Amüsiert schüttle ich den Kopf. »Die du bei meiner Mutter im Garten geklaut hast.«
»Die Geste zählt.«
Ich nicke übertrieben, was er feixend erwidert. Wir beide denken wohl an denselben Moment, als es meiner Mutter dämmerte, woher er die Blütenstängel jeden Tag mitbrachte. Phil rannte, meine Mutter mit der Rosenschere hinterher. Es war ein Spektakel, das sowohl Lou und ich als auch die Ryans mit vor Lachen schmerzenden Bäuchen verfolgt haben.
»Dein Geschenk war besser«, verrate ich ihm.
»Wirklich?«
»Natürlich!«
»Dabei hatte meins noch nicht mal eine Schleife.«
»Tja. Der Rosenstrauß hatte zwar eine und die Einladung in die Pizzeria war sehr verlockend, aber das Fotoalbum, das du mir gemacht hast, habe ich mir jeden Tag angeguckt. Es liegt heute noch in meinem Nachttisch. Der Strauß hingegen ist bei Mama auf dem Komposter gelandet.«
Ich denke an das Buch, das mittlerweile schon auseinanderzufallen droht, so oft habe ich es bereits durchgeblättert und an mich gedrückt. Phil hat auf jede Seite Fotos von uns beiden geklebt. Angefangen kurz nachdem wir uns kennengelernt haben. Er hat unser gemeinsames Leben darin verewigt und seine Erinnerungen und Gedanken dazugeschrieben. Es ist das persönlichste und gleichzeitig wertvollste Geschenk, das ich je in meinem Leben bekommen habe.
»Es liegt in deinem Nachtschränkchen? Schaust du dir unsere Eskapaden-Beweise etwa immer noch an?«
»Natürlich! Und die freien Seiten für unsere Zukunft werden regelmäßig gefüllt.«
Er lacht. »Du bist unglaublich.«
»Warum? Weil ich Erinnerungen liebe?«
»Weil du es tatsächlich vervollständigst.«
Phil wird wieder ernster und ballt seine Finger zu Fäusten. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihm etwas auf der Seele brennt.
Eine ganze Weile sehe ich mir sein wachsendes Unbehagen an. Nur das Geräusch der Hufe auf dem weichen Waldboden, das leise Knirschen des Leders vom Sattel und die leichte Brise, die durch das Blätterdach weht, sind zu hören.
Dann halte ich es nicht mehr aus. »Nun sag schon, was du loswerden möchtest.«
Ertappt lacht er auf und schüttelt den Kopf. »Tja. Ich …«
Ich beobachte ihn, sein Mienenspiel, das Lächeln und die grauen Augen, die auf mir ruhen. Ich kenne ihn. Jedes Detail in seinem Gesicht, jede Regung. Und doch gibt es immer wieder Momente wie diese, in denen er mir nicht mehr so vertraut wirkt. Da ist etwas Neues, etwas schwer zu Deutendes in seinem Blick. Die Art, wie er mich ansieht, wie seine Augen in mich eindringen und er mir plötzlich näher zu sein scheint. Ich weiß nicht, wann es mir zum ersten Mal aufgefallen ist, und ich weiß nicht, wann meine Reaktion darauf sich zum ersten Mal verändert hat. Doch auch jetzt erschrickt mich beides erneut. Da ist diese leise Nervosität, die mich durchzuckt, eine kaum hörbare Stimme, die mir zuruft, mich nicht in diesem Blick zu verlieren. Und es fällt mir jedes Mal schwerer, auf diese Stimme zu hören.
Avalons Schnauben kommt mir zur Hilfe und sofort umfasse ich die Zügel ein wenig fester. Ich räuspere mich, wende die Augen ab und atme durch. »Du wolltest mir etwas sagen?«
»Ja … Ähm …« Phils Stimme klingt belegt. »Vik, ich …« Wieder lässt er den Satz offen. Er schließt frustriert die Lider, reibt sich verzweifelt übers Gesicht und stöhnt: »Gott, so schwer kann das doch nicht sein!«, nuschelt er mehr zu sich selbst, als mit mir zu reden.
Und da dämmert es mir. Es würde zumindest dieses nachdenkliche Verhalten erklären, das mir auch schon in den letzten Tagen aufgefallen ist, und sein Ringen um Worte.
»Du hast eine Frau kennengelernt, die dir gefällt!«, mutmaße ich schließlich und ignoriere das kleine Gefühl des Unbehagens, das sich für einen winzigen Moment in meiner Brust meldet. Die Neugier überwiegt viel zu schnell.
Seinem Blick nach zu urteilen, habe ich ins Schwarze getroffen. Er hat also tatsächlich eine Frau gefunden! Und so, wie er sich hier verhält, scheint sie ihm wichtig zu sein.
»Erzähl mir alles über sie!«
»Da gibt es nichts zu erzählen«, weicht er aus.
Seine Augen verfinstert sich und schlagartig ist mir das ganze Ausmaß klar.
»Nein!«, pruste ich los. »Sie hat dich abblitzen lassen?« Die Schadenfreude und auch die Erleichterung, die meinen Körper durchfluten, kann ich kaum in meiner Stimme verheimlichen, was er grinsend zur Kenntnis nimmt.
»Ich fasse es nicht! Der große Phil Ryan beißt sich an einer Frau die Zähne aus!«
»Jaja, spotte du nur«, grummelt er und kämpft sichtlich darum, seine gewohnte Lässigkeit zurückzubekommen. Er treibt Enero an, damit er einen kleinen Abstand gewinnt, doch ich reagiere prompt und bleibe problemlos neben ihm.
»Na komm, gönn mir die Freude. Du hast praktisch jeden Monat eine andere im Arm, mittlerweile müsstest du doch sämtliche Frauenherzen in Edinburgh erobert haben! Und jetzt triffst du endlich mal eine, bei der du nicht sofort landen kannst! Klar, dass ich dich damit aufziehe.«
Er wiederum verzieht resigniert das Gesicht, schließt die Augen und schüttelt den Kopf. Dann richtet er seinen Blick wieder auf mich, mustert mich eingehend und seufzt: »Sie zieht mich noch nicht mal in Erwägung.«
Fassungslos starre ich ihn an. Der Stich, der sich durch mein Herz bohrt, ist nicht unerheblich. Er kommt nicht daher, dass seine Stimme traurig klingt. Dass sie seine Gefühle offensichtlich nicht einmal erwidert. Nein, es ist die Erkenntnis, dass er sein Herz jemandem geschenkt hat, was mich plötzlich wie ein eiskalter Eimer Wasser erwischt. Jemand anderem. Ein Gedanke, der nur kurz in mir aufflackert und mich erschrocken Luft holen lässt. Ich setze ein Lächeln auf, von dem ich hoffe, dass es nicht falsch aussieht. Doch Phils zusammengekniffene Augen verraten mir, dass ich nicht sehr erfolgreich bin.
»Woher kennst du sie?«, frage ich, um von meinen völlig idiotischen Gefühlsregungen abzulenken.
Doch er antwortet nicht.
»Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Phil!«, protestiere ich und schnipse ihm gegen die Schulter. Seine Stirn legt sich in Falten und ganz offensichtlich kann er mein merkwürdiges Verhalten nicht einordnen. Er sieht verunsichert, amüsiert und enttäuscht zugleich aus.
»Sie ist wirklich umwerfend! Anders als die anderen Frauen«, sagt er mit einem herausfordernden Ton, den ich nicht deuten kann.
Ich beginne damit, an Avalons Mähne zu spielen. Einfach, um etwas zu tun. Etwas, das mich daran erinnert, wie natürlich dieses Gespräch zwischen Freunden ist. Er hat eine Frau getroffen, die offenbar endlich sein Herz berührt, und ich habe nichts Besseres zu tun, als gegen einen kleinen dumpfen Schmerz in meiner Brust zu kämpfen und Phil die aufgeregte beste Freundin vorzuspielen. Er kennt mich gut genug, um zu bemerken, dass in mir gerade irgendetwas nicht stimmt. Ich räuspere mich und versuche, mein Lächeln auch wirklich ehrlich zu meinen: »Komm schon. Erzähl mir ein bisschen mehr als das verliebte Gebrabbel eines Mannes.«
»Was soll ich dir denn erzählen?«, fragt er angriffslustig. »Sie spielt außerhalb meiner Liga, unerreichbar für mich. Da gibt es nichts zu erzählen.«
»Außerhalb deiner Liga? Ist sie etwa Wonder Woman?«, frage ich und lache kurz auf.
»Witzig, dass du das erwähnst. Sie könnte tatsächlich diese Schauspielerin ersetzen. Wie hieß die noch mal?«
»Gal Gadot?«
»Ja, genau!«
»Also keine Blondine?« Ich bin überrascht.
»Viktoria, hör auf. Ich werde nichts über sie erzählen, okay?«
»So schlimm, dass du mich bei meinem vollen Namen nennst?«, setze ich belustigt nach.
Er verdreht die Augen. »Was willst du von mir hören?«
»Was an ihr so besonders ist, dass du dein übliches Beuteschema verlässt und zu einer Dunkelhaarigen wechselst.«
»Alles, Vik. An ihr ist alles besonders.«
Nur mühsam kann ich mein Lächeln aufrechterhalten. Warum schmerzen diese Worte so? Ich atme durch und versuche, es leicht klingen zu lassen.
»Vielleicht finde ich ja noch einen Weg in ihr Herz, und wenn es so weit ist, bist du die Erste, die es erfährt«, sagt er.
Ich wende meinen Blick von ihm ab, konzentriere mich auf das Pferd unter mir und schäme mich für die Gefühlsregungen in mir. Bisher haben mich keine seiner Liebschaften gestört, warum dann ausgerechnet jetzt?
»Es wird dir besser gehen, wenn du mir von ihr erzählst«, versuche ich es noch einmal, mehr halbherzig als ernst gemeint.
Er schnaubt gespielt verächtlich, was mich wieder zu ihm sehen lässt.
»Erzähl du mir lieber mal von dem Typen, mit dem du dich in letzter Zeit getroffen hast.«
Ich versteife mich, was Avalon wohl zum Anlass nimmt, stehen zu bleiben.
Phil lacht, deutet auf das Pferd und sieht mich vielsagend an. »Jaja, ich weiß davon. Ella war ganz begeistert, dass du anscheinend endlich jemanden kennengelernt hast.«
Seine Augenbrauen wackeln frech auf und ab und ich verfluche meine Mutter. Konnte sie nicht einfach ihren Mund halten? Aber das geschieht mir wohl gerade recht. So schnell kann sich das Blatt wenden. Die gerechte Strafe für meine absurde Eifersucht.
»Da ist nichts«, grummle ich verlegen, treibe Avalon an und schließe zu Phil auf.
»Das hörte sich aus Ellas Mund aber anders an. Sie scheint schon eure Hochzeit zu planen und Namen für Enkelkinder auszusuchen. Gestern, während des Abendessens, kam sie aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus und hat mir brühwarm von ihm erzählt.«
Deswegen also war da sein Blick so finster. Er saß mir gegenüber und durchbohrte mich mit seinen Augen, wobei ich schon ahnte, dass ihm irgendetwas nicht passte. Jetzt weiß ich, was es war. Und es nervt ihn scheinbar, dass ich ihm nichts erzählt habe.
Resigniert zucke ich die Schultern. »Jan ist …« Ich zögere und suche nach den richtigen Worten. »… nur ein Freund.«
Ich weiß selber nicht, ob es stimmt, was ich sage, aber alles andere würde sich nicht richtig anfühlen. Ich habe mich bisher nur ein paar Mal mit ihm getroffen und es war ganz nett. Wir haben gelacht, uns gut unterhalten und ich habe den Eindruck, dass er Gefühle für mich entwickelt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn so sehe. Dieses verliebte Kribbeln im Bauch, das heftige Herzpochen in der Brust, das ständige Lächeln im Gesicht. All das ist nicht da. Ich mag ihn. Er ist nett und ein echter Gentleman. Aber ich glaube nicht, dass er ein ernstes Thema werden wird.
»Jan? So heißt er also? Und was läuft da zwischen euch?«
Ich halte seiner Angriffslust stand, gewinne langsam meine Fassung zurück und grinse ihn nun genauso herausfordernd an wie er mich. Was das angeht, sind wir ebenbürtige Duellpartner. Wir haben voneinander gelernt, kennen die Knöpfe, die wir drücken müssen, die Schwachstellen des anderen, den Schmerzpunkt. Er wird sämtliche Hebel in Bewegung setzen, alles aus mir herauszubekommen, obwohl er weiß, dass ich genauso stur und wortkarg wie er gerade eben sein kann. Lasset den Kampf beginnen.
»Was bietest du für meine Informationen?« Doch zu meiner großen Überraschung schüttelt er den Kopf und treibt sein Pferd zum Trab an. Kurz darauf verfällt er in einen Galopp. Perplex sehe ich ihm hinterher, ehe ich überhaupt reagieren kann. Er geht nicht darauf ein? Er gibt einfach so auf? Kein Wortgefecht, keine Provokationen, um den anderen aus der Reserve zu locken? Kein verzweifeltes Betteln und In-die- Mangel-Nehmen?
»Hey!«, rufe ich ihm hinterher und reagiere endlich. Avalon lässt sich nicht zweimal bitten, beinahe augenblicklich prescht er nach vorne, Enero hinterher. »Du willst mir also wirklich nicht mehr über diese geheimnisvolle Frau verraten?«
»Nein, Vik!«, ruft er zurück. »Nicht eine einzige Silbe!«
Das verwirrt mich wirklich, denn es ist das erste Mal, dass er mir nichts über eine Frau erzählen will. Er hat auch sonst nie viele Worte darüber verloren, weil ich einfach nie wirklich nachgefragt habe. Aber wenn, war es für ihn kein Problem. Was ist an dieser so besonders? Warum erzählt er mir nichts von ihr? Und warum, verdammt noch mal, nervt mich das so.
»Jetzt warte!«
Phil scheint meinen Unmut zu bemerken, wird langsamer, bis ich wieder neben ihm bin. Der kurze Blickaustausch zwischen uns könnte nicht von mehr Emotionen geprägt sein. Frustration, Neugierde und Enttäuschung spiegeln sich in unser beider Gesichter wider. Schließlich seufzt er, streckt einen Arm nach mir aus und wartet, bis ich ihm meine Hand reiche.
»Vik, bitte. Diese Frau wird es niemals auf diese Weise in meinem Leben geben, also möchte ich auch nicht weiter über sie reden. Du weißt, dass ich dir sonst immer alles erzähle, aber hier liegen die Dinge ein wenig anders. Ich habe mich damit abgefunden, sie niemals so küssen zu dürfen, wie ich es gerne täte, oder sie an einem verregneten Sonntag mit Frühstück im Bett zu überraschen. Mit ihr auf der Couch zu kuscheln, sie in den Arm zu nehmen, wenn ich nach Hause komme, oder sie an meiner Seite zu wissen, wenn ich wieder einmal auf irgendeiner Veranstaltung eingeladen bin. Was nicht heißt, dass ich aufgebe, um ihr Herz zu kämpfen, aber es wird ein langer, harter, schmerzhafter und letztlich wohl aussichtsloser Kampf werden. Also können wir bitte aufhören, den Daumen weiter in meine Wunde zu stecken?« Er holt tief Luft, wendet den Blick ab und ich bin mir nicht sicher, ob sich das kurze Aufblitzen von Kummer in seinen Augen ebenso in meinen zeigt.
Verdammt, sie scheint ihn wirklich umgehauen zu haben, wer auch immer sie ist. Ich habe den dringenden Wunsch, sie kennenzulernen. Nur um zu wissen, was sie so besonders macht. Ich spüre die Neugier in mir wachsen, doch genauso wachsen da noch diese anderen Gefühle in mir: Schmerz, Neid und stechende Eifersucht!
»Was ist jetzt mit diesem Jörg?«, fragt er und lässt meine Hand los.
Ich schmunzle über seinen plumpen Versuch, den Namen vergessen haben zu wollen, und korrigiere ihn übertrieben spitz: »Jan. Er heißt Jan.«
»Wie auch immer. Was ist mit ihm?«
»Da ist nichts, Phil. Stella hat uns beide einander vorgestellt. Ich habe mich ein paar Mal mit ihm in einem Restaurant getroffen. Es war nett, er ist nett. Aber mehr war da nicht und ich bin mir nicht sicher, wohin es führen wird. Und ich bin bei Weitem nicht so leidenschaftlich bei der Sache wie du. Ich habe meiner Mutter von ihm erzählt, weil sie mich ständig fragt, wann ich denn nun wohl den Richtigen finde, nachdem Lou und Lucas wieder zueinandergefunden haben. Du weißt selber, wie nervig es ist.«
Phils Augen verengen sich kaum merklich. »Aber es könnte mehr werden?«
Sein Tonfall lässt mich innehalten. Er klingt, als wolle er die Antwort auf diese Frage gar nicht hören.
»Ich denke nicht.«
Er nickt, senkt den Blick und räuspert sich. »Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst.«
»Du bist ganz schön sentimental heute. Bist du sicher, dass wir nicht über sie reden sollen? Vielleicht kann ich dir einen wertvollen Tipp geben. Die Gedanken- und Gefühlswelt der weiblichen Spezies ist mir recht gut bekannt. Weißt du, ich bin nämlich nicht nur dein bester Kumpel, sondern nebenbei auch noch eine Frau.«
Ein gequältes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. »Das weiß ich. Glaub mir. Das weiß ich.«
»Also?«
»Nein. Wie schon gesagt. Es ist aussichtslos. Vielleicht brauche ich einfach nur ein wenig Abstand und dann regelt sich alles wieder von alleine.«
»Dann komm nächstes Wochenende zu mir nach Hamburg. Lass uns noch mal richtig feiern gehen, Bars, Clubs. So wie früher.«
Kopfschüttelnd schließt er die Augen und stöhnt ergeben. »Mit Abstand meine ich, dass ich mich in die Arbeit stürze und der Frauenwelt für eine Weile aus dem Weg gehe. Clubbesuche enden nur wieder damit, dass ich mit diversen Telefonnummern nach Hause komme.«
»Wir könnten uns als Paar ausgeben. Dann halte ich sie dir alle vom Leib.«
»Vik. Bitte.«
Ihn so leiden zu sehen, tut weh.
»Okay. Keine Partys. Und auch kein Treffen nächstes Wochenende«, schmolle ich gespielt, was ihm endlich erneut ein Lächeln entlockt.
»Ich komme dich ganz bald besuchen. Versprochen. Nur nicht nächstes Wochenende, okay?«
»Okay.«
»Und jetzt zeig mir mal, ob du immer noch eine ebenbürtige Gegnerin bist!«, ruft er mit plötzlicher Begeisterung und treibt Enero an. Im wilden Galopp prescht er davon.
»Hey! Das können wir nicht auf uns sitzen lassen!«
Mit schnalzender Zunge treibe ich Avalon an, lasse die Zügel länger, stelle mich im Sattel auf und gebe meinem Pferd den Freiraum, den es braucht, um seine volle Energie in jeden einzelnen Galoppsprung zu stecken. Mit Erfolg. Der Abstand zu Phil wird kleiner. Zwar langsam, aber immerhin. Und da wir diese Strecke schon oft geritten sind und ich genau weiß, dass unser Ziel die alte Eiche auf der Wiese hinterm Wald sein wird, beschließe ich, eine Abkürzung zu nehmen. Immerhin hat Phil durch seinen spontanen Start einen Vorsprung, den es aufzuholen gilt. Ich lenke Avalon vom breiten Weg ab, auf einen Trampelpfad, der die große Kurve deutlich abkürzt. Ein umgeknickter Baumstamm liegt quer über dem Weg, was Avalon unweigerlich schneller werden lässt, als fände er diese Route viel spannender als den Hauptweg. Mit einem raschen Sprung lassen wir den Stamm hinter uns, jagen den schmalen Pfad entlang und kommen kurz darauf direkt neben Phil heraus.
»Du pfuschst!«, ruft er lachend.
»Nicht mehr als du!«, antworte ich und lege mich mehr nach vorn. »Los, Avalon! Wir schaffen das!«
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Kapitel 2
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Viktoria
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Es ist schon dunkel geworden, als wir den Stall verlassen und langsam zurück zu den Häusern unserer Eltern schlendern. Ein letztes Mal beiße ich in meine Siegerkarotte, dann werfe ich das grünliche Endstück in die Büsche und schaue zu Phil hinüber. Sein Profil hebt sich trotz der Dunkelheit deutlich von der Umgebung ab. Die Haare, die leicht wellig nach hinten gestrichen sind. Seine Augen, die gedankenverloren jedem seiner Schritte folgen, und sein Mund, dessen Lippen sich immer wieder frustriert zusammenpressen.
»Phil?«
»Mhm?«
»Gib nicht auf. Du wirst ihr Herz bestimmt noch gewinnen.«
Er bleibt stehen und auch ich tue es, drehe mich zu ihm und erwidere seinen Blick. In seinen grauen Augen ist nichts von seinem Kämpfergeist zu finden. Sie wirken verloren und traurig. Unwillkürlich trete ich ganz nah an ihn heran, schlinge meine Arme um seine Taille und drücke ihn an mich. Auch wenn ich ihm nur bis zum Kinn reiche, versuche ich, ihm irgendwie Trost zu geben.
Doch es fühlt sich falsch an und tief in meinem Inneren macht sich Übelkeit breit. Denn ich weiß, dass das hier der pure Egoismus ist. Ich habe Angst, ihn als Freund zu verlieren, wenn er eine Frau in seinem Leben hat. Die unbeschwerten Besuche, die regelmäßigen Telefonate, all das würde mit der Zeit immer weniger werden. Welche Frau würde es schon gut finden, dass ihr Mann für ein paar Tage zu seiner besten Freundin fliegt und bei ihr wohnt? Geschweige denn diese auch im Gästezimmer duldet, wenn die ihren Geliebten besser zu kennen scheint als sie selbst? Gott, was ist nur mit mir los? Warum fühle ich das komplette Gegenteil von dem, was ich als beste Freundin eigentlich sollte?
Er legt seinen Kopf auf meinen und erwidert meine Umarmung genauso fest. »Und woher willst du das wissen?«
»Ich kenne dich und deine Hartnäckigkeit. Bisher hast du alles bekommen, was du wolltest.«
»Nicht alles.«
»Doch, Phil. Manchmal hast du nur ein wenig länger gebraucht, aber letztendlich hast du deine Ziele immer erreicht.«
»Deine Zuversicht weiß ich zu schätzen, aber ich glaube, dieses Mal irrst du dich leider.«
»Nein. Und ich werde dir in den Hintern treten, wenn du so einfach aufgibst. Wir sind beste Freunde, schon vergessen?«
Phil nickt und schnaubt resigniert. »Ja, beste Freunde.«
Ich versteife mich für einen Augenblick und hoffe, mir seinen Tonfall nur eingebildet zu haben. Doch der Stich in meiner Brust ist real. Vorsichtig lasse ich ihn los und mache einen kleinen Schritt zurück. Am liebsten würde ich mich einfach umdrehen und gehen, ihm die Zeit geben, die er offensichtlich braucht. Wofür auch immer. Unbehagen macht sich in mir breit. Es ist, als würde sich gerade ein kleiner Riss in unserer Freundschaft bilden. Etwas, das stark genug ist, plötzlich zwischen uns zu stehen, und ich habe absolut keine Ahnung, was das sein könnte.
»Vik?« Er zieht mich zurück in seine Arme und drückt mich noch einmal ganz fest. »Tut mir leid. Ich wollte das nicht so schroff sagen. Es ist nur … Im Moment ist alles …« Er holt tief Luft. »Du bist die beste Freundin, die ich mir je wünschen könnte. Und ich brauche dich. Das weißt du, oder?«
Ich antworte nicht. Kann es gerade einfach nicht. Seine Worte, die nüchterne Feststellung, dass wir Freunde sind, ist nun mal genau das, was wir tatsächlich sind und was wir immer sein wollten. Doch mit einem Mal schmerzt dies um so vieles mehr, als das, was ich empfand, als ich von dieser Frau erfahren habe.
»Vik«, wiederholt er sanft.
Ich bringe ein Nicken zustande, von dem ich nicht weiß, was ich gerade zustimme. Ist es die Antwort auf seine Frage oder das Eingeständnis, dass irgendetwas in mir momentan ganz und gar falsch läuft?
Phil streicht behutsam über meinen Arm. »Ist dir kalt?«
Erneut nicke ich nur.
»Dann komm. Ich bringe dich noch bis zur Tür.«
Vorsichtig löst er unsere Umarmung, sieht mich angesichts meines merkwürdigen Schweigens irritiert an und greift schließlich nach meiner Hand, so, wie er es immer tut: beschützend, liebevoll, als Freund. Dann setzen wir unseren Weg fort. Unablässig kreisen meine Gedanken um den heutigen Tag und es nervt mich, dass Phil nicht mit mir reden möchte, auch wenn ich seinen Grund dafür verstehe. Und noch viel mehr nervt es mich, dass es mich überhaupt nervt! Schritt für Schritt folge ich ihm und mit jedem Schritt wächst in mir das schlechte Gewissen. Ich sollte mich für ihn freuen, ihn noch mehr ermuntern, um sie zu kämpfen. Vor allem weil es das erste Mal ist, dass er wirklich tiefere Gefühle für eine Frau entwickelt zu haben scheint. Ich weiß, dass er meine Reaktion bemerkt hat, meine Unsicherheit, meine Genervtheit und genau das sollte nicht so sein.
»Phil?«, frage ich und bleibe stehen, ehe wir den kleinen Kiesplatz vor meinem Elternhaus erreichen.
Er dreht sich zu mir um und sieht mich abwartend an. Doch ich sage nichts mehr. Ich muss es in seinem Gesicht erkennen. Dass zwischen uns alles okay ist und sich an unserer Freundschaft nichts ändern wird. Dass diese merkwürdigen Gefühle in mir, meine blöde Reaktion und diese Frau in seinem Leben nicht zwischen uns stehen werden. Als Phil beginnt zu verstehen, lächelt er und mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen.
»Hey. Es ist alles okay, okay?«, sagt er sanft und streicht mir über die Wange.
Ich nicke und doch suche ich nach Anzeichen, dass es nicht so ist. Phil wäre nicht Phil, wenn er es nicht bemerken würde. Er lacht kurz auf und tritt ganz nah an mich heran. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können. Seine Hände greifen nach meinen und er verschränkt unsere Finger.
»Vik, sei nicht sauer auf mich.«
»Das bin ich nicht«, werfe ich schnell ein. Vielleicht etwas zu schnell, denn er mustert mich aufmerksam.
»Dann bist du enttäuscht.«
Ich ziehe meine Nase kraus. »Vielleicht nur ein bisschen und nur ganz kurz.«
»Du bist eine schlechte Lügnerin«, sagt er.
»Es tut mir leid«, nuschle ich.
Seine Stirn legt sich in Falten. »Muss es nicht. Ich war genauso genervt, dass du mir von diesem Joschi nichts erzählt hast und ich erst von deiner Mutter von seiner Existenz erfahren habe. Deswegen verstehe ich deine Reaktion. Aber glaube mir einfach, dass es für mich angenehmer ist, gar nicht erst darüber zu reden. Wenn ich irgendwann einmal das Bedürfnis dazu habe, rufe ich dich sofort an.«
Ich grinse und unterdrücke den Drang, den Namen zu korrigieren. Stattdessen lege ich meinen Kopf an seine Brust und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals. Hat er schon immer so gut gerochen?
»Es ist ein blödes Gefühl, jetzt so auseinanderzugehen und uns erst in zwei Monaten zu Sophies Taufe wieder zu treffen«, raunt Phil in mein Haar. »Meine Schwester ist jetzt schon ganz aufgeregt deswegen und macht alle in der Familie verrückt.«
Jules ist immer voller Energie. Aber erst recht, wenn es etwas zu feiern gibt. Und die Taufe ihrer kleinen süßen Tochter ist mit Sicherheit schon minutiös durchgeplant.
»Ich habe dir angeboten, nächstes Wochenende zu kommen«, werfe ich ein.
»Ja, das hast du. Aber es geht nicht.«
»Schon klar. Du brauchst Abstand von der Frauenwelt. Aber brauchst du den etwa auch von mir?«
Phils Daumen hören auf, Kreise auf meine Handrücken zu malen, und augenblicklich vergeht mir mein dümmliches Grinsen. Er ist mit einem Mal so viel näher, als ich erwartet habe. Seine Augen bohren sich mit einer aufkommenden Entschlossenheit in meine, wandern immer wieder über mein Gesicht und finden dann ihren Weg zurück zu meinen. Eine seiner Hände streicht sanft meinen Arm hinauf bis zu meiner Wange, die er vorsichtig umfasst. Es ist eine so zärtliche Berührung, dass ich mich ganz automatisch hineinlege. Ich weiß nicht mehr, wie oft er mich genauso berührt hat. Wie oft er mich schon auf diese Weise angesehen hat. Und doch ist diese Geste hier so viel anders als die tausende davor. Etwas verändert sich gerade. So offensichtlich und doch so unbemerkt. Jede seiner Bewegungen nehme ich intensiver wahr. Seine andere Hand wandert in meinen Rücken und zieht mich vorsichtig und sanft an sich. Ohne darüber nachzudenken, gebe ich dem Druck nach, schmiege mich mit meinem Oberkörper an seinen. Die Wärme, die von ihm ausstrahlt, ist mir nicht neu, die Bewegung seiner Muskeln genauso wenig. Warum zum Teufel wird mir dann auf einmal so heiß? Ich bin wie gelähmt. Auf eine Art, wie ich es noch nie gespürt habe. Wie hypnotisiert hänge ich an seinen Augen und spüre jede Regung seiner Finger. Sein Blick zuckt zu meinen Lippen und sollte mir eigentlich eine Vorwarnung sein auf das, was gleich passieren wird. Doch ich bin außerstande, mich zu bewegen oder irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Er ist mir jetzt so nah, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berühren. Sein Atem kitzelt. Hitze durchströmt meinen gesamten Körper, ein nie dagewesenes Kribbeln breitet sich in mir aus. Meine Kopfhaut prickelt und meine Knie werden weich. Sekunden vergehen, ohne dass sich einer von uns bewegt, und dann überbrückt Phil die letzten Zentimeter. Legt ganz vorsichtig seine Lippen auf meine und ich erstarre. Irgendwo in meinem Kopf ruft jemand, ich sollte ihn wegdrücken, mich umdrehen und davonrennen, doch stattdessen schließen sich meine Augen. Meine Hände liegen an seiner Taille, scheinen sich dort in den Stoff seines Shirts zu krallen, ganz entgegen dem, was ich eigentlich tun sollte. Und lehnt sich mein Körper etwa gerade noch mehr gegen ihn? Mit einem überraschten Stöhnen reagiert Phil sofort darauf und bestätigt das, was ich vermute. Er bewegt seine Lippen, öffnet meine damit noch ein Stück, bis sich unsere Zungenspitzen berühren. Sanft, vorsichtig, zaghaft.
Sein Griff um meine Taille wird fester, seine Hand in meinem Nacken zieht mich noch enger an sich. Und, mein Gott, warum fühlt es sich so verdammt richtig an? Warum scheint mein Herz gerade zum ersten Mal in meinem Leben wirklich zu schlagen?
Aber das hier ist Phil. Mein bester Freund. Und wir setzen gerade etwas aufs Spiel, das so viel wichtiger ist als dieses kurze Prickeln. Es wird alles verändern, wenn ich das hier nicht sofort beende. Er wird es bereuen und ich genauso. Das hier ist pure Verzweiflung und nicht echt. Es ist nicht echt. Diese Worte brennen sich wie kalte Säure durch mich hindurch und endlich gehorcht mein Körper mir wieder. Abrupt löse ich meine Hände von ihm, als würde er mich verbrennen, und gehe einen Schritt zurück. Dann noch einen. Oh mein Gott!
»Was …«, stottere ich, bekomme aber keinen vollständigen Satz heraus. Fassungslos starre ich ihn an und sehe, wie seine erhitzten Wangen jegliche Farbe verlieren. Wie seine Schultern herabsacken und der Glanz aus seinen Augen verschwindet.
»Vik …« Ruckartig streckt er die Hand nach mir aus und macht Anstalten, den Abstand zwischen uns zu verkleinern, doch automatisch mache ich noch einen Schritt zurück. Nicht, weil mich seine Berührung abstößt, sondern weil ich den Abstand jetzt brauche, um zu verstehen, was da gerade in mir passiert. Was dieses Kribbeln zu bedeuten hat. Warum mein Körper plötzlich laut nach seiner Berührung schreit.
Phil lässt sich von meinem Rückzug nicht entmutigen, macht einen noch größeren Schritt und hat mich im Handumdrehen wieder in seine Arme gezogen. Ich bleibe wie erstarrt, halte mich weder an ihm fest, noch drücke ich ihn von mir. Das merkwürdige Kribbeln in meinem Bauch weitet sich wie ein Tsunami über meinen gesamten Körper aus und macht mir Angst.
»Es tut mir leid. Es tut mir so leid«, wiederholt er immer und immer wieder. Streicht über meine Arme und versucht verzweifelt, meine Starre zu lösen. Doch ich bin gar nicht darüber erschrocken, dass er mich geküsst hat, sondern vielmehr, dass ich den Kuss zugelassen, erwidert und sogar genossen habe. Und verdammt! Es fühlte sich so richtig und so gut an.
»Was war das?«, frage ich leise mehr meinen eigenen Körper als ihn. »Phil? Was war das?«, sage ich jetzt lauter und zucke bei dem Ton meiner Stimme zusammen. Meine Worte klangen schärfer als beabsichtigt, doch die Gefühle in mir überschlagen sich und ich brauche eine Antwort. Eine Reaktion.
Was war das für ihn und warum hat er mich geküsst? Warum hat er es zugelassen, dass wir diese Grenze überschreiten? Eine Grenze, über die wir zwar nie gesprochen haben, die aber ganz klar bestand. Wir wollten nie eine Affäre für den anderen sein, nie in das Chaos der Gefühle verfallen, doch genau das macht dieser Kuss jetzt mit uns. Er stürzt uns in einen Strudel, aus dem wir so leicht nicht mehr ausbrechen können. Ich brauche seine Antwort auf diesen Kuss. Ganz gleich, wie die Wahrheit für ihn aussieht.
Phil schweigt, reagiert nicht auf meine Frage, nicht auf meine Verunsicherung. Stattdessen drückt er sich ein Stück von mir weg und sieht mich an. Seine Miene lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Sie ist aalglatt. Ausdruckslos. Geschäftsmäßig. Undurchdringbar. Langsam richtet er sich wieder zu seiner vollen Größe auf, strafft die breiten Schultern und sieht mich weiter ohne jegliche Regung an.
»Phil?«, frage ich verwirrt. »Erklär es mir. Was war das?«
Er schüttelt seinen Kopf, schließt die Augen und fährt sich mit den Händen durch die Haare, als ob er nach Halt sucht.
»Es tut mir leid«, stößt er gepresst hervor, dreht sich abrupt um und verschwindet mit schnellen Schritten in Richtung des Hauses seiner Eltern. Völlig irritiert bleibe ich alleine zurück und spüre, wie die Kälte der Nacht sich nicht nur auf meine Haut legt, sondern tief in mich eindringt und mein Herz umhüllt. Ich brauche Phil gerade jetzt mehr denn je, aber das Gefühl, ihn in diesem Moment verloren zu haben, frisst sich wie ein Parasit unaufhaltsam durch mich hindurch.
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