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Leseprobe aus
The Moment we Surrender

 

Kapitel 1

 

Avery

​

»Ich will dich nicht gehen lassen«, murmelt Caissy in mein Ohr. Zum gefühlt hundertsten Mal in der letzten halben Stunde drückt sie mich. Die Worte schmerzen, erst recht, da ich weiß, wie ernst sie es meint.

Mit einem Seufzen löse ich mich ein Stück von ihr und mustere ihre grünen Augen, die im fahlen Licht der Straßenlaterne traurig in meine blicken. Die Dunkelheit um uns herum hat sich schon lange tief in meinem Inneren festgesetzt. Sie ist mir vertraut, genauso wie die Kälte, die durch die Jacke dringt und mir eine Gänsehaut bereitet. Wie ein alter Freund legt sie sich um mich, und ich heiße jedes einzelne Erschauern willkommen. »Ich habe es ihr versprochen.«

»Ich weiß. Auch, dass es die einzig richtige Entscheidung für dich ist. Es wäre nur schön, wenn der Abschied anders verlaufen würde.«

Eine Träne läuft über ihre Wange, und ich wünschte, ich könnte es ihr gleichtun. Doch da ist nichts mehr. Ich habe zu viele geweint, lautlose und schmerzhafte, und nicht eine von ihnen hat den Druck in mir gelöst.

»Danke für alles«, flüstere ich ihr zu, umarme sie ein letztes Mal, ehe ich meine Tasche und den Geigenkoffer greife und, ohne umzudrehen, in den Fernbus steige. Jede Stufe hinauf bringt mich der Freiheit ein kleines Stück näher, auch wenn ich immer noch in diesem verdammten Kaff bin. Ich wende mich nicht um, als ich mich ans Fenster setze, die Türen sich schließen und der Bus sich mit einem Ruckeln in Bewegung setzt. Erst als wir vom Parkplatz fahren, wage ich einen Blick und sehe meine einzige noch verbliebene Freundin winken. Sie nickt aufmunternd, wohl wissend, dass dieser Abschied endgültig sein könnte.

Mit einem tiefen Atemzug beobachte ich die dunklen Straßen. Jedes vorbeiziehende Haus ist wie ein Stück meiner Vergangenheit, das ich hinter mir lasse. Ich weiß, dass wir an dieser einen Stelle vorbeifahren und meine morbide Selbstzerstörung mich zwingen wird, hinzuschauen. Sie ist der Antrieb, warum ich jetzt auf diesem verblassten, grau gestreiften Polster sitze. Neben mir die grüne Tasche mit allem, was mir wichtig ist, und auf dem Schoß der schwarze Geigenkoffer mit meiner Stradivari. Allein die geringe Größe des Gepäcks erweckt den Anschein, dass ich über das Wochenende wegfahre, dabei beinhaltet es alles, was mir geblieben ist. Mehr brauche ich nicht. Zumindest nicht mehr. Einzig Caissy zu verlassen, lässt mich fühlen, dass ich am Leben bin. Es tut viel zu weh, als dass ich es ignorieren könnte.

Zwei Kreuzungen noch, dann ist der Moment da und so sehr ich innerlich dagegen ankämpfen will, blicke ich doch zu der Stelle, an der einst mein Leben in Ordnung war, an der ich Träume und Hoffnungen hatte, die nicht mehr existieren. Mein Zuhause. Alles in mir pulsiert auf unangenehme Weise, lässt den Moment wie in Zeitlupe erscheinen und doch fahren wir viel zu schnell vorbei. Ich recke den Kopf, um auch die letzte Ecke so lang wie möglich zu sehen – und um mich ein weiteres Mal zu quälen.

»Ein Auf Wiedersehen ist nicht leicht«, zieht mich eine Stimme, nicht weit von mir, aus dem schmerzenden Sog.

Nur langsam blicke ich auf die andere Seite des schmalen Ganges, wo eine Frau mit ihrem kleinen Kind sitzt.

»Es ist ein Neuanfang«, entgegne ich und bin überrascht, wie fest meine Stimme klingt. Behutsam lege ich die Geige neben mich auf den Sitz.

»Die meisten kommen zurück nach Flagstaff, sobald sie erkennen, in was für einem Paradies wir leben.«

Ich erwidere nicht, dass es für mich zur Hölle geworden ist. »Und Sie?«

Mit einem wissenden Lächeln deutet sie auf ihren Sohn, der mit einem Kissen auf ihrem Schoß liegt und einen Zeichentrick-Film auf dem Handy schaut. »Er ist der weltgrößte Dinosaurier-Fan und ich habe ihm zum Geburtstag eine Eintrittskarte für das Arizona Museum of Natural History geschenkt. Er kann es kaum erwarten, den Nachbildungen gegenüberzustehen.«

»Er wird den Ausflug bestimmt nie vergessen.«

Sie neigt den Kopf. »Oh, das hoffe ich. Es ist nicht so leicht, ohne Auto nach Phoenix zu kommen. Zwei Stunden mit dem Bus sind gerade noch angenehm.«

»Das stimmt. Fahren Sie heute auch wieder zurück?«, frage ich der Höflichkeit halber. Das kann ich gut. Wirken, als sei alles in Ordnung, als würde mein Innerstes nicht schreien und um Hilfe flehen. Als würde ich nicht von den schmerzhaften Gefühlen zerfressen werden, wie von lodernden Flammen, die nichts außer kalter grauer Asche zurücklassen. Ja, ich bin verdammt gut darin, zu funktionieren und mich zu vergessen.

»Ich habe Verwandte dort, bei denen wir zwei Nächte bleiben, bevor es zurückgeht.« Zärtlich streicht sie ihrem Sohn über die Haare.

»Das ist schön.« 

Sie nickt liebevoll. »Und Sie wagen einen Neuanfang?«

Druck breitet sich in meiner Brust aus. »Es wird Zeit, etwas anderes zu sehen«, weiche ich aus.

»Wohin soll es gehen?«

Warum bin ich auf dieses Gespräch nur eingegangen? Es sind zu viele Fragen, die sie stellt. Sie meint es bestimmt gut und sie wirkt freundlich, dabei sehne ich mich nach Ruhe. »Seattle«, gebe ich zurück und gähne gespielt, in der Hoffnung, dass sie es mir abnimmt.

Zu meinem Glück wird ihr Blick weich. »Und ich halte Sie wach. Dabei haben Sie eine weite Reise vor sich.«

Dankbar lächelnd wende ich mich dem Fenster zu und beobachte die dunkle Landschaft. Mein eigenes Spiegelbild sieht mir entgegen und so betätige ich den kleinen Schalter über dem Kopf, um das Licht am Sitz auszuschalten. Es reicht nicht aus, um meinen Anblick zu löschen, doch immerhin erkenne ich, dass wir uns noch in den Wäldern des Coconino National Forest befinden. Bald schon erreichen wir die Weidelandschaften und Canyons, ehe wir vor Phoenix die Wüste passieren.

Ich setze meine In-Ear-Kopfhörer ein, starte meine Playlist auf dem Handy und knülle die Jacke gegen das Fenster, um mich anzulehnen. Dann schließe ich die Augen und konzentriere mich auf die Noten einer Melodie, die nur ich höre. Ich spiele unsichtbar mit den Fingern die Saiten der Geige und genieße den Moment, in dem meine Gedanken verstummen.

Der Himmel zeigt sein schönstes Morgenrot, als wir den Phoenix Sky Harbor Airport erreichen, und endlich keimt in mir das leise Gefühl, die Freiheit greifen zu können. Es ist winzig und dennoch so stark, dass ich alles tun würde, um es in jeder Faser meines Körpers zu spüren. Ich schultere die Reisetasche, nehme die Geige und verabschiede mich mit einem Nicken von der Frau und ihrem Sohn. Er winkt mir zu und dieses Mal erwidere ich es.

Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich noch vier Stunden habe, ehe der Flug nach Seattle geht. Also betrete ich die Abfertigungshalle in gemäßigtem Tempo, beachte die Menschen um mich herum nicht und ziehe die Kapuze meines Hoodies über den Kopf, nachdem ich meine langen Haare zu einem Dutt gedreht habe. In einer Ecke des Flughafens setze ich mich auf den Boden, entsperre den Bildschirm und schreibe Caissy eine Nachricht.

 

Ich: Bin in Phoenix.

 

Sofort springt Caissys Status auf online.

 

Caissy: Sehr gut. Erste Etappe geschafft. Was machst du, bis dein Flug geht?

 

Ich: Hab mich in eine Ecke verkrümelt und warte. Vielleicht schreibe ich gleich an meinem Stück weiter.

 

Caissy: Ich will es hören, wenn du es das erste Mal spielst, okay?

 

Müde lehne ich den Kopf an.

 

Ich: Wie immer. Das wird sich nicht ändern, ich habe es dir versprochen.

 

Einen Moment tippt keine von uns ein Wort und dennoch weiß ich, dass sie wie ich den Bildschirm anstarrt. Als würden wir spüren, dass dies hier endgültig ist, ein Abschied von einem Leben, das nie mehr so sein wird, wie es war. Ich hoffe, dass ich Caissy wiedersehen, sie in den Arm nehmen und mit ihr stundenlang auf dem Bett sitzen und reden werde. Doch wir wissen beide, dass ich nie zurück nach Flagstaff gehen kann.

 

Caissy: Ich weiß. Pass auf dich auf und melde dich, wenn du gelandet bist.

 

Ein Knoten bildet sich in meinem Magen und steigt langsam die Kehle hinauf. »Immer«, flüstere ich und stecke das Handy zurück in die Tasche.

Drei Stunden später stehe ich vor der Glasfront am Gate, blicke auf das weiße Flugzeug und das rege Treiben drumherum. Der Tankschlauch hängt am Bauch der Maschine, die Container mit dem Essen werden angeliefert und über eine kleine Rampe geschoben. Gepäckstücke werden unsanft auf ein Förderband geworfen, ehe sie ruckelnd hinaufwandern, um im hinteren Teil zu verschwinden. Alles in mir will einsteigen, spüren, wie die Triebwerke anspringen und die Beschleunigung mich in den Sitz drückt. Ich will in den Himmel steigen, über Wolken fliegen und nichts von der Realität mitnehmen. Ungeduldig wippe ich mit einem Bein und gehe in Gedanken mein selbst geschriebenes Stück durch. Ich lausche den Klängen in meinem Kopf, schließe die Augen und neige ihn ein wenig, als könnte ich sie dadurch besser wahrnehmen.

Der Aufruf zum Boarding holt mich abrupt zurück aus meiner Blase und so schnappe ich meine Geige und die kleine Handtasche.

»Herzlich willkommen an Bord von American Airlines«, begrüßt mich eine Flugbegleiterin. Ihr Lächeln ist einnehmend und ich erwidere es, folge dem langsamen Trott der anderen Passagiere, bis ich meinen Platz erreicht habe. Fenster. Genau, wie ich es wollte. Schweren Herzens verstaue ich die Violine im Gepäckfach, lasse mich auf den Sitz fallen und schnalle mich an. Erst als die Maschine sich in Bewegung setzt und auf der Startbahn das lauter werdende Dröhnen zu hören ist, atme ich zum ersten Mal seit langer Zeit tief durch. Ich habe es endlich geschafft.

 

 

Kapitel 2

 

Liam

 

»Jungs«, ruft Rowan, als sie unser Studio betritt, das wir seit ein paar Jahren schon unser Zuhause nennen. Wie immer hat sie ihren Kalender und das Handy zwischen Arm und Körper eingeklemmt. »Wir haben ein Problem.«

»Der Privatjet von DB Records ist gestrichen?«, fragt Cole mit den Drumsticks in den Händen und sieht zu Blake.

Privatjet. Ich kann es immer noch nicht fassen. Unser neues Plattenlabel stellt uns ein verdammtes Flugzeug zur Verfügung, damit wir unsere Europatournee in vier Monaten starten können. Mit Streichquartett, eigener Security-Crew und Roadies, modernen Tourbussen und edlen Luxushotels.

Als vor über einem Jahr Coles und mein Dad gestorben ist, haben wir uns bis zum Benefizkonzert eine Auszeit genommen. Es war nötig, um alles zu verarbeiten, trauern zu können und auch bei Mom zu bleiben, bis sie wahrlich realisiert hat, was der Tod ihres Mannes für sie bedeutet. Genau das hat für enormen Stress bei der Plattenfirma gesorgt. Rowan hat versucht, alles aufzufangen, doch wir haben gemerkt, dass es ihr von Tag zu Tag schlechter ging. Als just in diesem Moment eine Mail aus Los Angeles kam, war die Sache klar. Wir haben unser Label gewechselt, sind jetzt bei einer der größten Agenturen der USA unter Vertrag und haben obendrein die Freiheit, wir bleiben zu dürfen. Keine kommerzielle Gruppe Musiker, die sich an die Gegebenheiten des Marktes anpassen muss, sondern schlicht und ergreifend Whipe Up, eine Band aus Spokane, die schon zu Schulzeiten gemeinsam für diesen Traum gekämpft hat. Jeder von uns ist ein fester Bestandteil und wir funktionieren, weil wir so sein können, wie wir sind. Dexter Boyce, der Big Boss von DB Records, hat dies schnell erkannt und viele unserer Bedingungen erfüllt. Eine davon war, in unserem Studio bleiben zu können. Boyce hat dies zum Anlass genommen, unserem alten Label ein Angebot zu unterbreiten, das sie nicht ausschlagen konnten. Nun gehört der Laden ihm und wir dürfen unser Studio behalten. Aus Olympic Music wurde DB Records.

Rowan schüttelt den Kopf. »Nein. Dexter wird den Teufel tun, seiner erfolgreichsten Band den geringsten Luxus zu verwehren. Aber wir haben einen Ausfall bei den Violinisten. Francesco hatte einen Unfall und sich die Hand gebrochen. Er wird es nicht schaffen, bis zum Tourauftakt fit zu sein.«

Mein Blick huscht zu den Jungs, die mich ebenso entsetzt ansehen, wie ich mich fühle. Shit.

»Fuck«, stößt Blake aus, zieht den Gitarrengurt über seinen Kopf und stellt sie neben sich in den Ständer. »Was ist passiert?«

»Er ist in der Dusche ausgerutscht«, entgegnet sie seufzend.

»Geht es ihm sonst gut?« Ezra fährt sich durch die Haare.

»Ja. Er ist verständlicherweise extrem sauer und enttäuscht, aber ihm geht es den Umständen entsprechend gut. Die Hand ist geschient und wird wohl ohne OP heilen. Aber das dauert. Er wird danach nicht sofort zur Geige greifen können.«

»Wir brauchen zwei Violinen zu der Bratsche und dem Violoncello. Sonst sind die Songs unstimmig«, werfe ich ein.

»Ich weiß.« Rowan atmet hörbar durch und zieht einen Stehhocker zu sich heran. »Deswegen bin ich hier. Ich bin alle Möglichkeiten durchgegangen, aber wir kennen keinen, der annähernd an Francesco herankommt, und die, die beim letzten Casting noch infrage gekommen wären, haben mittlerweile andere Verpflichtungen. Meine einzige Idee wäre eine spontane Audition.«

»Wie willst du das anstellen?«, frage ich, setze mich auf den Boden und stelle meine E-Gitarre neben mich ab, ohne sie loszulassen. Den Hals nach oben, den Körper auf meinem Bein. »Niemand wird kurzfristig nach Seattle kommen können, um uns zu überzeugen.« Blind stöpsle ich die Kopfhörer ein, um lautlos weiterzuspielen. Ich lege sie nicht um, brauche aber die Saiten unter den Fingern, denn mit ihnen kann ich besser denken. Sie fokussieren und erden mich. Als wären sie ein Teil von mir.

»Deswegen machen wir das Ganze online. Eine Live-Audition möchte ich hier machen. Roxy klärt für mich ab, ob wir wieder den Saal in der Northern Caldorian Dance Academy nutzen können. Er ist perfekt dafür.«

Blake nickt nachdenklich. »Du willst also die breite Masse ansprechen und nicht wie beim letzten Mal die Orchester des Landes?«

»Nicht ganz. Ich bin bereits mit einigen Orchestern in Kontakt, um nach einem Ersatz zu suchen, der das Crossover beherrscht. Tatsächlich ist das nicht so einfach. Die meisten konzentrieren sich auf klassische Musik, nicht aber auf den Mix mit modernem Rock und Pop. Eine Audition wäre daher die Lösung. Wer von seinem Können überzeugt ist und den Weg nach Seattle auf sich nimmt, ist ein potenzieller Kandidat. Natürlich werden wir ein mehrmonatiges Engagement ankündigen, aber in keiner Form die Band erwähnen. Daher würde der Aufruf auch von einer Marketingagentur organisiert werden, mit der wir bereits öfter zusammengearbeitet haben. Sie sind das Bindeglied zwischen uns und den Musikern.«

Ich lasse meine Finger weiter über die Saiten gleiten, fühle die Schwingungen und weiß, wie es sich anhört, wenn ich die Kopfhörer tragen würde. Beinahe wird der Drang, sie aufzusetzen, übermächtig, doch ich beherrsche mich. Das hier ist zu wichtig, als dass ich mich ausklinke. »Wir entscheiden mit?«

»Selbstverständlich. Gemeinsam mit den verbliebenen Dreien des Quartetts. Ihr alle müsst zusammen harmonieren, sonst funktioniert es nicht. Ihr seid also einverstanden mit meiner Idee?«

»Immer Kätzchen«, bestätigt Ezra, was Blake und mir ein stöhnendes Lachen entlockt.

»Dann ist es beschlossen«, sage ich und sehe fragend in die Runde. Nicht, um eine Antwort auf meine Worte zu bekommen, sondern auf eine unausgesprochene Frage, ob wir weiterspielen können.

Rowan erhebt sich mit einem wissenden Grinsen, küsst Ezra und tippt bereits auf ihrem Handy herum, bevor sie das Studio verlässt.

Ein paar Stunden feilen wir noch an den Feinheiten der neuen Songs, reagieren, wenn einer von uns Veränderungen einbaut, stockt oder zu einem Solo ansetzt. Jede Note jagt wie ein wohliger Schauer über meine Haut, hüllt mich ein und brennt sich in mir fest. Es ist die Leichtigkeit, die mitschwingt, sobald ich meine Gitarre spüre, die Energie, die sie auf mich überträgt und das Adrenalin, das durch meine Adern schießt. 

Erst am frühen Abend machen wir Feierabend. Blake wird von Ally und Rookie abgeholt, Cole beeilt sich, um Roxy in der Academy einzusammeln, und ich schnappe mir meinen Motorradhelm, verlasse unser Studio und laufe die eiserne Treppe hinunter. Der Empfangstresen ist leer, direkt daneben befindet sich eine Ansammlung von Umzugskisten. Ich weiß, dass der ehemalige Aufnahmeraum von Tyra leer steht. Bestimmt zieht eine neue Band dort ein. Tyras einstiger Versuch, Rowan und Ezra in der KimmyTallon Show bloßzustellen, ist nicht gut angekommen. Es hat ihr ihre Karriere gekostet. Unser altes Plattenlabel hat sie fallen lassen und offensichtlich hat sie nicht erneut einen Fuß in der Musikbranche gefasst. Genauso wenig wie die Plattenfirma. Wir sind anscheinend zum richtigen Zeitpunkt ausgestiegen, denn immer mehr Probleme mit Musikern haben sie schließlich in die Knie gezwungen. DB Records war genau zum richtigen Zeitpunkt da.

»Hey«, höre ich eine helle Stimme hinter mir und drehe mich um. Eine Frau mit blauen Haaren kommt auf mich zu und deutet auf die Kartons. »Tut mir leid für das ganze Chaos. Morgen früh ist es weg.«

Ergeben hebe ich die Hände. »Ich bin der Letzte, bei dem du dich entschuldigen musst. Mir macht das nichts aus.« 

Sie lächelt erleichtert. »Ich bin Jess und habe seit heute das Studio 1F.«

Wie ich es mir gedacht habe. »Freut mich. Ich bin …«

»Liam«, unterbricht sie mich und winkt ab. »Ich weiß. Oh, sorry. Das klingt jetzt irgendwie … vergiss es, okay? Gott, wie peinlich.«

Grinsend neige ich den Kopf und mustere sie einen Moment. Sie ist nervös. Immer wieder verändert sie die Position ihrer Arme. Verschränkt sie vor der Brust, lässt sie fallen, hebt einen, um sich eine Strähne zurückzuschieben und nestelt schließlich an ihren Fingern herum. Dieses Studio ist voll mit Musikern und noch nie war jemand unruhig, einen anderen zu treffen. Zumindest ist mir nichts bekannt. »Brauchst du Hilfe beim Tragen?«

Überrascht sieht sie mich an, dann deutet sie auf den Helm in meiner Hand. »Du hast bestimmt Besseres vor.«

»Nicht wirklich«, gebe ich zu. Nur eine leere Wohnung, die auf mich wartet. Vielleicht noch eine Session mit meiner Gitarre. An manchen Tagen mag ich die Einsamkeit, weil sie viel zu selten in meiner Welt ist. Heute jedoch ist mir noch nicht nach Ruhe.

»Ähm. Ja. Sehr gern. Danke!« Sie geht einen Schritt rückwärts, dreht sich um und schnappt sich einen Karton.

Ich tue es ihr gleich und folge ihr in Tyras altes Studio. »Seit wann machst du Musik?«, frage ich.

Jess blickt über die Schulter zu mir. »Schon mein ganzes Leben lang. Früher habe ich meiner Mom beim Singen gelauscht und sobald ich konnte, mitgesungen. Ich war auf diversen Akademien und habe bis vor Kurzem am Broadway in einem Musical mitgewirkt.«

»Wow. Beeindruckend.«

Sie winkt ab, stellt den Karton auf einen Tisch und bedeutet mir, es ihr gleichzutun. »Mehr Glanz als Ruhm. Es ist ein hartes Geschäft, mit viel Neid und Missgunst. Vor allem Letzteres und das war es mir nicht wert. Aber wem sage ich das? Du kennst das sicher auch.«

Ich streiche mir die Haare zurück. »Ja, ein hartes Fell ist manchmal nicht verkehrt. Kommst du deswegen ans andere Ende des Landes und mietest dir ein eigenes Studio?«

»So ungefähr.« Sie lacht. Gemeinsam holen wir weitere Kisten. »Tatsächlich ist Seattle meine Heimat und New York war am anderen Ende des Landes. Ich bin nach Hause zurückgekommen und konzentriere mich voll und ganz auf meine eigene Karriere.«

»Find ich gut. In welche Richtung gehst du?« Sie weiß, was sie will.

»Mein Herz schlägt für Country. Das will in dieser Szene aber kaum jemand hören, da ich zu modern bin. Mal schauen, ob und wen ich überzeugen werde und wie lange ich mir das Studio überhaupt leisten kann. Die nächsten Monate sind zumindest gezahlt.«

»Das wird schon, solange du dir selbst treu bleibst«, ermuntere ich Jess, auch wenn ich weiß, wie hart dieses Business sein kann. Vor allem, wenn man allein kämpft. Ich habe die Jungs an meiner Seite. Von Anfang an. Erfolge und Rückschläge. Positive und negative Nachrichten. Euphorie und schlechte Tage. Nichts von alldem muss ich je allein austragen. Es gibt immer ein Back-up, einen Ort, an dem man versteht, auch ohne Worte. Menschen, die einen erden.

Kurze Zeit später haben wir die Kisten verstaut und auch Ezra und Rowan waren für einige Minuten da, um sich vorzustellen. Sein anzügliches Grinsen habe ich mit einem Augenverdrehen abgetan.

Mit einem lauten Seufzer lässt Jess sich auf einen Stuhl sinken. »Vielen Dank, Liam. Du hast mir echt geholfen.«

»Kein Ding. Sag das nächste Mal Bescheid, wenn wieder Kisten auf dich warten.«

»Das Angebot werde ich sicherlich in Anspruch nehmen.«

Ich winke ihr zum Abschied, verlasse das Gebäude und sehe hinauf in den mittlerweile dunklen Himmel. Es ist spät geworden und kurz überlege ich, ob ich Jess anbieten soll, sie nach Hause zu bringen, doch da entdecke ich eine blonde Frau an einem SUV. Als sie mich entdeckt, stößt sie sich davon ab und deutet hinter mich auf die Tür. »Ist Jess noch da?«

»Ja«, entgegne ich, was ihr ein genervtes Stöhnen entlockt.

»Ich warte seit einer halben Stunde auf sie. Ihr Handy ist mal wieder aus und die Tür ist mit einem Code gesichert, den ich nicht kenne.« Stirnrunzelnd neigt sie den Kopf und mustert mich eingehend, als käme ich ihr bekannt vor, sie es aber nicht einordnen kann. Ich bin dankbar dafür, denn dieser Ort ist einer von wenigen, an denen ich einfach nur ein Typ mit einer Gitarre bin und nicht Teil einer der erfolgreichsten Bands der USA.

Nach einem kurzen Zögern trete ich zurück, gebe die sechsstellige Nummer ein und öffne die Tür. Ich muss sie ja nicht gleich reinlassen. »Jess?«, rufe ich und meine Worte hallen durch den hohen Eingangsbereich. Ich spüre die Blicke der Frau auf mir und verfluche schon, dass ich nicht einfach zu meiner Maschine gegangen und losgefahren bin. Nur Sekunden später erscheint Jess mit schnellen Schritten am anderen Ende der Halle. Als sie entdeckt, wer neben mir steht, legt sich ein schlechtes Gewissen auf ihre Miene. »Lana! O mein Gott, ich habe völlig die Zeit vergessen.« Gehetzt erreicht sie uns. »Liam, das ist Lana, meine Freundin.«

»Verlobte«, verbessert diese selbstzufrieden.

So viel zu Ezras anzüglichen Blicken denke ich amüsiert.

»Liam?« Abrupt hält sie inne, sieht zu Jess und ihre Augen weiten sich. Offensichtlich ist die Erkenntnis, wer ich bin, gerade in ihr Bewusstsein gesickert. Ich nicke.

»Freut mich«, stammelt sie, und als ich mich endgültig verabschiede, höre ich nur noch ein: »Holy Shit! Du hast nicht gesagt, dass Whipe Up hier ihr Studio hat!«

Grinsend schließe ich die Lederjacke, setze den Helm auf und schwinge mich auf meine Kawasaki Ninja. Vibrierend erwacht die schwarze Lady zum Leben und ich beschließe, nicht auf direktem Weg nach Hause zu fahren. Ich liebe die Nacht, wenn ich eins mit der Umgebung werde und so gebe ich Gas, folge dem grauen Asphalt ein Stück aus dem Zentrum hinaus und über Umwege wieder zurück. Kein Gedanke, der mich beschäftigt, nur das Gefühl der Freiheit. Wie gern würde ich die Maschine mit auf Tour nehmen, doch der Transport ist zu umständlich und vielleicht habe ich auch Sorge, dass der Lack einen Kratzer abbekommen könnte. Gut möglich, dass ich mir in der ein oder anderen Stadt eine leihen werde. Als Ausgleich zur Musik, der Tour. Meine Möglichkeit, runterzukommen und das überschüssige Adrenalin abzubauen.

Seattle ist voll von Menschen, die entweder eilig ihren Weg entlang hetzen oder gemütlich miteinander redend und lachend über den Gehweg schlendern. Die Ampeln sind grün und so schlängle ich mich durch den dichten Verkehr, bis plötzlich eine Frau vor mir auftaucht. Mitten auf der Straße. Nur einen Atemzug entfernt.

»Fuck!« Jeder Zentimeter meines Körpers spannt sich an, mein Puls rast. Ich ziehe die Bremse, spüre, wie mein Körper nach vorn gedrückt wird. Fuck! Fuck! Fuck! Viel zu schnell ist sie da, springt zur Seite, während ich schlingernd hinter ihr zum Stehen komme. Schwer keuchend stelle ich die Füße auf die Straße und spüre meinen Puls in jeder Faser. Meine Finger zittern, meine Beine fühlen sich wie Pudding an. Ich lasse den Kopf sinken, endlos erleichtert, dass meiner Lady nichts passiert ist und ich diese Frau nicht erwischt habe. Blinzelnd schaue ich in ihre Richtung und spüre, wie sich Wut in meiner Brust ausbreitet. Energisch schiebe ich das Visier hoch. »Sag mal, tickst du nicht ganz richtig?«

Schnaubend hebt sie ihre grüne Reisetasche auf, die ihr offenbar vor Schreck hinuntergefallen ist, und ich entdecke einen Geigenkoffer auf ihrem Rücken. Anstatt sich zu entschuldigen, giftet sie mit funkelnden Augen wütend zurück: »Arschloch!«

Überrascht reiße ich die Brauen nach oben. »Wie bitte? Du bist einfach auf die Straße gelaufen.«

»Hier ist ein Zebrastreifen, du Vollidiot.« Sie deutet auf ihn mit so viel Nachdruck, dass ihre langen, dunklen Haare nach vorn fallen. Aufgebracht streicht sie sie hinter die Schulter.

»Und Rot!«, gebe ich fassungslos zurück und hebe den Arm in Richtung Ampel.

Sie folgt meinem Fingerzeig, richtet ihre Aufmerksamkeit aber viel zu schnell wieder auf mich. »Kein Grund, Leute über den Haufen zu fahren. Hast du deinen Führerschein in der Lotterie gewonnen?«

Das kann nicht ihr Ernst sein! »Immerhin kenne ich die Verkehrsregeln. Eine Schulung würde dir hingegen mal ganz guttun, oder bist du farbenblind?«

»Wow. Diskriminierung hast du drauf.« Sie klopft imaginären Dreck von ihrer Jeans, was idiotisch ist. Da ist absolut nichts.

Mir klappt der Mund auf und wieder zu, ehe ich in der Lage bin, etwas zu erwidern. »Und du den Hang zur Selbstüberschätzung.«

»Ach, verzieh dich einfach«, faucht sie nun und macht eine abfällige Handbewegung.

Schnaubend zeige ich auf sie. »Dein Ernst? Du läufst bei Rot auf die Straße, hast offensichtlich mehr Glück als Verstand und keifst mich an? Sei froh, dass ich dich nicht erwischt habe.«

»Du erwartest jetzt nicht ernsthaft ein Danke, oder?«

Blaulicht blinkt neben uns auf und ich stöhne innerlich. Scheiße. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich höre schon Rowans tadelnde Worte, sollte zu meinem Glück auch noch irgendeine Kameralinse auf mich gerichtet werden. Ich kann nur hoffen, dass mich keiner unter dem Helm erkennt.

»Gibt es Probleme, Miss?«, fragt ein Officer, der den Wagen verlässt und uns beide missmutig beäugt.

Einen Moment starren Oberzicke und ich uns noch an, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein, alles okay.«

»Sind Sie sicher?«

Sie wendet den Blick ab und sieht dem Mann in die Augen. Entgegen meiner Erwartung tritt kein Lächeln auf ihre Lippen. Sie bleibt bei ihrer kalten Miene. »Ja, ich bin mir absolut sicher. Es war ein langer Tag für mich, Officer. Kann ich gehen?«

Streng mustert er mich, dann nickt er und schlendert viel zu langsam zurück zu seinem Wagen. Nicht, ohne mich noch ein letztes Mal mahnend anzuschauen.

»Danke«, murmelt sie schließlich knapp in meine Richtung und macht Anstalten, davonzugehen.

»Was hast du da gesagt?«, frage ich, weil ich mein Mundwerk nicht halten kann. Auf gewisse Weise amüsiert mich dieses eine Wort ungemein. Doch ich bekomme keine Antwort mehr, sehe nur eine Hand, die sich hebt und mir den Mittelfinger zeigt.

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